Ein Kind erhält Briefe von einem Brieffreund, der behauptet, ein Geist zu sein. Der Geist erzählt faszinierende Geschichten darüber, wie es ist, ein Geist zu sein.
Lena war ein gewöhnliches Mädchen mit einer außergewöhnlichen Leidenschaft für das Schreiben.
Jeden Tag nach der Schule setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch, zog ihre Lieblingsstifte hervor und schrieb Briefe an ihre Freunde.
Eines Tages, als sie gerade dabei war, einen Brief an ihre beste Freundin Emma zu schreiben, bemerkte sie einen Briefumschlag, der nicht wie die anderen aussah.
Er war alt und vergilbt, mit einem Siegel, das wie aus einer anderen Zeit stammte.
Neugierig öffnete Lena den Umschlag und zog ein Blatt Pergament heraus. Die Schrift war kunstvoll und altmodisch, als ob sie mit einer Feder geschrieben worden wäre. Der Brief begann mit den Worten:
„Liebe Lena,
Mein Name ist Theodor, und ich bin dein neuer Brieffreund. Aber ich bin nicht wie deine anderen Freunde, denn ich bin ein Geist.“
Lena lachte. Ein Geist? Das musste ein Scherz sein. Aber die Geschichten, die folgten, waren so faszinierend, dass sie nicht aufhören konnte zu lesen.
Theodor erzählte von seinem Leben in einem alten Schloss, das seit Jahrhunderten verlassen war.
Er beschrieb die geheimen Gänge, die knarrenden Treppen und die Räume voller Spinnweben. Lena konnte die Kälte des Steins und die Dunkelheit der Ecken förmlich spüren.
Theodor schrieb weiter: „Als Geist habe ich viele Fähigkeiten. Ich kann durch Wände gehen, mich unsichtbar machen und in Träume eintauchen. Aber am liebsten erzähle ich Geschichten.“
Lena war so fasziniert, dass sie beschloss, Theodor zu antworten. Sie schrieb über ihr Leben, ihre Schule, ihre Familie und ihre Freunde.
Sie stellte viele Fragen: Wie war es, ein Geist zu sein? War er einsam? Hatte er Freunde?
Ein paar Tage später fand Lena erneut einen Brief auf ihrem Schreibtisch. Theodor hatte ihr geantwortet:
„Liebe Lena,
Ich habe viele Freunde unter den Geistern. Wir veranstalten jede Nacht eine Geisterversammlung, bei der wir Geschichten erzählen und gemeinsam lachen.
Aber ich habe noch nie einen lebenden Freund gehabt. Es ist schön, mit dir zu schreiben.“
Lena und Theodor schrieben sich immer öfter. Theodor erzählte von den alten Zeiten, als das Schloss noch bewohnt war, von den Festen und Bällen, die dort stattfanden, und von den Geheimnissen, die die Mauern verbargen.
Lena konnte sich die prächtigen Räume und die fröhliche Atmosphäre lebhaft vorstellen.
Eines Abends erzählte Lena ihrer Mutter von Theodor. Ihre Mutter lächelte und sagte: „Das klingt nach einer wundervollen Geschichte, Lena. Aber vergiss nicht, dass Geister nur in Märchen existieren.“
Doch Lena war überzeugt, dass Theodor real war. Sie konnte seine Geschichten nicht einfach als Fantasie abtun. Eines Tages beschloss sie, das alte Schloss zu besuchen, von dem Theodor immer sprach.
Sie wollte herausfinden, ob es wirklich existierte.
Lena erzählte Emma von ihrem Plan, und die beiden Mädchen machten sich auf den Weg.
Das Schloss lag am Rande der Stadt, umgeben von einem dichten Wald. Als sie näher kamen, spürte Lena eine Gänsehaut.
Das Schloss sah genauso aus, wie Theodor es beschrieben hatte: hoch aufragende Türme, zerbrochene Fenster und eine verwitterte Fassade.
Mutig betraten sie das Schloss. Die Luft war kalt und feucht, und jeder Schritt hallte in den leeren Hallen wider.
Lena und Emma erkundeten die Räume, fanden alte Möbel und Gemälde, die von einer längst vergangenen Zeit zeugten. Plötzlich hörten sie ein leises Flüstern.
„Lena… Emma…“
Die Mädchen erstarrten. Das Flüstern kam aus dem großen Saal. Vorsichtig gingen sie dorthin und sahen eine schimmernde Gestalt in der Mitte des Raumes.
Es war Theodor. Er sah genauso aus, wie Lena ihn sich vorgestellt hatte: ein junger Mann in altmodischer Kleidung, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
„Willkommen, Lena,“ sagte er. „Ich freue mich, dass du gekommen bist.“
Lena konnte kaum glauben, was sie sah. „Theodor, bist du wirklich ein Geist?“
Theodor nickte. „Ja, und ich bin so froh, dass du hier bist. Ich wollte dir das Schloss zeigen und dir die Geschichten aus erster Hand erzählen.“
Die nächsten Stunden verbrachten Lena und Emma damit, Theodors Geschichten zu lauschen.
Er zeigte ihnen die verborgenen Räume und erklärte die Geheimnisse des Schlosses. Es war eine unvergessliche Erfahrung.
Doch als die Sonne unterging, wurde die Atmosphäre düsterer. Theodor erklärte, dass die Nacht Geister aus aller Welt anziehen würde, und nicht alle waren so freundlich wie er.
„Ihr müsst jetzt gehen,“ warnte er. „Es ist nicht sicher für euch hier.“
Lena und Emma verabschiedeten sich schweren Herzens von Theodor und machten sich auf den Rückweg.
Als sie das Schloss verließen, versprach Lena, weiterhin Briefe an Theodor zu schreiben.
In den folgenden Wochen schrieben sich Lena und Theodor weiterhin. Doch Theodors Briefe wurden immer kürzer und geheimnisvoller. Eines Tages erhielt Lena den letzten Brief:
„Liebe Lena,
Es war eine wundervolle Zeit, mit dir zu schreiben und dich kennenzulernen. Doch nun muss ich weiterziehen. Meine Zeit hier ist zu Ende, und ich muss einen neuen Ort finden. Aber ich werde dich nie vergessen.
Dein Freund,
Theodor“
Lena war traurig, aber sie verstand. Geister konnten nicht ewig an einem Ort bleiben.
Sie schrieb einen letzten Brief an Theodor und legte ihn unter das Kopfkissen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war der Brief verschwunden.
Jahre vergingen, und Lena wurde älter. Doch die Erinnerungen an Theodor und das alte Schloss verblassten nie.
Sie erzählte die Geschichten, die sie von Theodor gehört hatte, ihren eigenen Kindern und Enkeln.
Und jedes Mal, wenn sie einen alten Brief sah, dachte sie an ihren Geisterfreund und das wundersame Abenteuer, das sie zusammen erlebt hatten.
Elara ist eine ständig reisende Schriftstellerin aus Deutschland, die Hotelzimmer gegen Spukhäuser tauscht auf ihrer Suche nach dem perfekten Gruselmoment. Mit einem Koffer voller Träume und einem Laptop als ständigen Begleiter spinnt sie Geschichten des Schreckens, inspiriert von den dunkelsten Ecken ihrer Vorstellungskraft und den unheimlichen Orten, die sie bereist.