
Hab neulich beim Aufräumen mein altes Deutschbuch gefunden. Achte Klasse oder so. Da war noch so ein Zettel drin, wo ich „Erlkönig“ analysieren sollte. „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ Keine Ahnung warum, aber den Anfang kann ich heute noch auswendig.
Ist schon komisch. In der Schule fandest du Gedichte ätzend. Musste sie auswendig lernen, interpretieren, über Metrum und Reimschema reden. „Was wollte der Dichter damit sagen?“ Woher soll ich das denn wissen? Der ist seit hundert Jahren tot.
Aber irgendwie… irgendwie bleiben die Dinge hängen. Letztens bin ich durch den Park gelaufen, war richtig schöner Herbsttag mit bunten Blättern und so, und plötzlich dachte ich an dieses Gedicht von Rilke. „Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ War in dem Moment richtig passend.
Vielleicht ist das das Problem mit Gedichten in Deutschland – wir tun alle so als würden wir sie nicht mögen, aber heimlich schon.
Meine Oma hatte früher so ein Poesiealbum. Da standen lauter Sprüche drin von ihren Freundinnen. „Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, aber unsere Freundschaft soll niemals vergehen.“ Kitschig? Ja. Aber auch irgendwie süß.
Heute machen wir das anders. Instagram-Posts mit Zitaten auf schönen Hintergründen. „Be yourself“ oder „Live your dreams“ – ist auch Poetry, nur auf Englisch und mit Filter.
Was in der Schule schiefläuft
Das Ding ist – Deutschunterricht macht Gedichte kaputt. Wirklich. Du kriegst da einen Text vorgesetzt, „Der Panther“ von Rilke oder sowas, und sollst dann erklären was die Metaphern bedeuten. Als gäb’s da eine richtige Antwort.
Mein Deutschlehrer damals, Herr Schneider, war eigentlich OK. Aber der hat uns erklärt dass in „Die Lorelei“ alles symbolisch zu verstehen ist. Das Wasser steht für das Unbewusste, die Schiffer für… was weiß ich. War mir zu hoch.
Dabei ist das Gedicht doch eigentlich einfach. Da sitzt eine schöne Frau am Rhein, singt, und die Männer gucken zu sehr hin und fahren gegen die Felsen. Kann man heute auch noch verstehen. Ablenkung durch schöne Frauen – gibt’s immer noch. Nur dass heute keiner mehr Schiff fährt.
„Was ist die Kernaussage?“ war auch so eine Frage die ich gehasst hab. Manchmal ist die Kernaussage einfach – das klingt schön. Oder es reimt sich gut. Muss nicht immer eine tiefe Wahrheit dahinterstecken.
Einmal sollten wir selbst ein Gedicht schreiben. Über den Winter oder so. Ich hab dann irgendwas hingeschrieben mit Schnee und kalt und Heimweh. War nicht besonders gut, aber hat sich gereimt. Note Drei-Minus. „Bemüht, aber zu oberflächlich“ stand da drunter.
Oberflächlich? Mann, war halt Winter und ich war 14. Was soll ich da für tiefe Gedanken haben?
Poetry Slams – Gedichte für Normalos
Vor paar Jahren war ich mal bei so einem Poetry Slam. War in Köln, meine damalige Freundin wollte da hin. Ich dachte – oh Gott, drei Stunden Gedichte anhören. Aber war eigentlich ganz cool.
Die Leute da auf der Bühne haben über ganz normale Sachen geredet. Einer über das erste Date mit seiner Freundin, eine andere über ihre Großmutter mit Demenz. Aber halt in Gedichtform. Mit Rhythmus und so.
War gar nicht hochtrabend oder schwer zu verstehen. Eher wie Geschichten erzählen, nur anders. Und das Publikum hat mitgemacht, gejohlt und geklatscht wenn was Gutes kam.
Der Typ der gewonnen hat, der hat über seinen Vater geredet. Wie der immer gesagt hat „Männer weinen nicht“ und er dann als Erwachsener gemerkt hat dass das Bullshit ist. War richtig gut. Hätte ich ihm auch so erzählen können, aber als Gedicht war’s irgendwie stärker.
Poetry Slam ist glaub ich Gedichte für Leute die denken sie mögen keine Gedichte. Funktioniert jedenfalls.
Deutsche Dichter und was von ihnen hängenbleibt
Goethe natürlich. Der große Meister. „Über allen Wipfeln ist Ruh“ – kennt jeder. Auch wenn die wenigsten das ganze Gedicht können. Ich auch nicht ehrlich gesagt.
„Erlkönig“ hab ich schon erwähnt. Ist eigentlich eine krasse Geschichte wenn man drüber nachdenkt. Vater reitet mit seinem kranken Kind durch die Nacht, das Kind halluziniert oder stirbt oder beides. Ziemlich düster für die achte Klasse.
Schiller mit seinem „Die Glocke“ – „Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt.“ Musste ein Kumpel von mir mal komplett auswendig lernen. Als Strafe oder so. Hat ihm nicht geschadet, der ist jetzt Anwalt.
Heine war cooler. „Die Lorelei“ kenn ich noch, aber auch „Deutschland. Ein Wintermärchen“. Hat schön gelästert über die Deutschen. Machst du heute auch, nur ohne Versmaß.
Heinrich Heine war übrigens Jude und musste ins Exil. Seine Gedichte wurden später von den Nazis verboten, aber „Die Lorelei“ war zu bekannt. Haben sie dann als „Verfasser unbekannt“ gedruckt. Ziemlich erbärmlich.
Rilke ist auch so einer der hängenbleibt. „Herbsttag“ hab ich schon erwähnt. Aber auch der „Panther“ – „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält.“ Über einen Panther im Zoo. Klingt traurig, ist auch traurig.
Was Gedichte können was andere Texte nicht können
Ist schon komisch. Warum schreibt jemand ein Gedicht und nicht einfach einen Text? Was ist der Unterschied?
Rhythmus ist eine Sache. Gedichte haben oft einen Beat, auch wenn sie sich nicht reimen. Liest du vor und merkst – das klingt anders als normale Sprache. Mehr wie Musik.
Dann diese Verdichtung. In einem Gedicht ist jedes Wort wichtig. Kannst nicht einfach schreibt „sehr schön“ – musst dir was Besseres einfallen lassen. Zwingt zum Nachdenken über Sprache.
Meine Tante schreibt Gedichte. Nicht professionell, einfach so. Zur Goldenen Hochzeit von Oma oder wenn jemand stirbt. Sind nicht wahnsinnig künstlerisch, aber passen immer zur Situation. „Fünfzig Jahre Hand in Hand, durch das ganze deutsche Land…“ Reim stimmt, Gefühl auch.
Bei Beerdigungen werden oft Gedichte vorgelesen. Selten selbstgeschriebene, meist bekannte. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ oder so. Gibt dem Moment was Feierliches. Normale Sprache würde sich komisch anfühlen.
Moderne Gedichte und Social Media
Instagram hat Gedichte verändert. Diese kurzen Sprüche mit schönen Fotos dahinter – ist das noch Lyrik oder schon Lifestyle-Content?
„She was fierce, she was strong, she was tired of everyone’s shit“ – steht unter einem Foto von Sonnenuntergang. Klingt poetisch, ist aber sehr direkt. Neue Art von Gedicht vielleicht.
Rupi Kaur kennst du bestimmt. Diese kanadische Autorin die ganz simple Gedichte schreibt. „you were my cup of tea, but i drink coffee now.“ Millionen Likes. Deutsche würden sagen – zu einfach. Aber funktioniert.
TikTok hat auch Poetry-Content. Leute die ihre Gedichte vorlesen, manchmal mit Musik drunter. Wird „Spoken Word“ genannt. Ist wie Poetry Slam für zu Hause.
Problem ist – viel davon ist ziemlich oberflächlich. „Love yourself“ und „You are enough“ und solche Sachen. Stimmt zwar, aber nach dem zehnten Mal nervt’s.
Was Deutsche heute dichten
Songwriting ist auch Dichten. Deutschrap zum Beispiel. Da wird auf Rhythmus und Wortwitz geachtet wie bei Gedichten früher. „Ich bin ein Berliner, du bist ein Wiener“ – ist halt ein Reim.
Jan Delay oder Sido können das richtig gut. Erzählen Geschichten, aber mit Beat und Reim. „Halt die Fresse, ich brauche meine Ruh“ – ist direkter als Goethe, aber Prinzip das gleiche.
Liedermacher gibt’s auch noch. Konstantin Wecker oder Reinhard Mey. Die singen Geschichten mit Gitarre. Ist wie Ballade nur modern. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ – steht eigentlich wie ein Gedicht da.
In Kleinanzeigen stehen manchmal Gedichte. „Suche Frau fürs Leben, sollte treu und ehrlich sein, Alter ist mir egal, Hauptsache du bist nicht allein.“ Reim passt, Inhalt auch. Praktische Poesie.
Gedichte bei besonderen Anlässen
Hochzeiten ohne Gedicht geht gar nicht. Meist liest jemand was vor. Oft Klassiker wie „Von der Freundschaft“ oder was Modernes. Hab mal eine Hochzeit erlebt wo der Trauzeuge selbst was geschrieben hat. War richtig gut, ging um die beiden und ihre Geschichte.
Trauerfeiern auch. „Ich bin der Herr, dein Gott“ ist zu religiös für viele heute. Dann eher „What a wonderful world“ oder ein Gedicht über Erinnerungen. Hilft beim Abschiednehmen.
Geburtstage – meine Oma kriegt jedes Jahr ein Gedicht von uns Enkeln. Schreiben wir gemeinsam, jeder eine Strophe. „Oma wird heut achtzig Jahr, das ist wirklich wunderbar…“ Kitsch pur, aber sie freut sich.
Weihnachten früher immer. „Knecht Ruprecht“ oder „Markt und Straßen stehn verlassen.“ Macht heute kaum noch jemand. Zu christlich oder zu altmodisch. Schade eigentlich.
Warum Deutsche Probleme mit Gefühlen in Gedichten haben
Wir sind nicht gut darin, Gefühle zu zeigen. „Ich hab dich lieb“ geht noch, aber „ich liebe dich“ ist schon schwierig. In Gedichten ist es noch schlimmer. Klingt schnell kitschig oder übertrieben.
Engländer oder Amerikaner machen das besser. Die können „I love you to the moon and back“ sagen ohne rot zu werden. Deutsche würden sich schämen für so einen Satz.
Deshalb funktionieren englische Gedichte auf Social Media besser als deutsche. Klingen romantischer, weniger peinlich. „Roses are red, violets are blue“ – ist albern, aber charmant albern.
Deutsche Romantik ist komplizierter. „Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel, und dringt durch alles sich“ – Goethe halt. Stimmt wahrscheinlich, aber sagst du nicht mal eben so.
Gedichte auswendig lernen – Fluch oder Segen?
In der Schule haben wir viele Gedichte auswendig gelernt. Fandest du damals scheiße, aber heute… heute bin ich eigentlich froh drum.
„Der Erlkönig“ kann ich komplett. „Es ist ein Ros entsprungen“ auch. „Herr, es ist Zeit“ sowieso. Kommt manchmal hoch in passenden Momenten. Ist wie ein kultureller Schatz im Kopf.
Mein Großvater konnte Unmengen von Balladen. Schiller, Fontane, alles. Hat die abends erzählt statt Fernsehen zu gucken. „John Maynard war unser Steuermann“ – kannte ich schon als Kind.
Heute lernt keiner mehr was auswendig. Steht ja alles im Internet. Aber ist schon was anderes, wenn du einen Text wirklich kennst. Im Kopf hast. Gehört zu dir.
Poetry in der Pandemie
Corona hat komische Sachen gemacht mit Gedichten. Plötzlich hatten alle Zeit und haben angefangen zu schreiben. Instagram war voller Amateur-Poetry.
„In times like these, we need to remember…“ – so fingen alle an. War meist nicht besonders gut, aber ehrlich gemeint. Menschen brauchten halt Worte für das was sie gefühlt haben.
Online Poetry Slams gab es auch. Über Zoom. War nicht dasselbe wie live, aber besser als nichts. Dichter in ihren Wohnzimmern vor der Webcam. Sehr intim irgendwie.
„Social Distancing“ wurde zum Gedicht-Thema. „Two meters apart but close in heart“ – haben bestimmt tausend Leute geschrieben. Manchmal sind alle Menschen gleichzeitig kreativ.
Was bleibt von deutscher Dichtung
Goethe wird’s immer geben. Steht auf Geldscheinen, in Schulbüchern, auf Denkmälern. „Über allen Wipfeln ist Ruh“ können auch Leute die sonst keine Gedichte mögen.
Neue deutsche Dichtung ist schwieriger. Wer sind die großen Dichter von heute? Durs Grünbein vielleicht, oder Ulla Hahn. Kennst du wahrscheinlich nicht. Kennt kaum jemand.
Rap ist vielleicht die neue deutsche Dichtung. Kollegah, Capital Bra, wer auch immer – die erreichen mehr Menschen als alle Literaturpreisträger zusammen. Ist halt andere Sprache, anderer Beat.
Gedichte überleben, weil Menschen Sprache mögen die schöner ist als Alltag. Die mehr kann als nur informieren. Die Gefühle macht statt nur Fakten zu vermitteln.
„In einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad“ – klingt immer noch schön, obwohl niemand mehr weiß was ein Mühlenrad ist. Musik der Sprache ist zeitlos.
Werd wahrscheinlich nie selbst Gedichte schreiben. Bin nicht der Typ dafür. Aber lesen tu ich sie manchmal. Heimlich. Wenn keiner guckt.
Ist OK so.



















