Das Geheimnis vom gähnenden Goldfisch

Das Geheimnis vom gähnenden Goldfisch

Goldfisch Finni gähnt unkontrolliert und macht alles um sich herum müde. Eine lustige Spurensuche in seinem Glas beginnt.

Finni war ein Goldfisch von Welt. Zumindest von der Welt seines Goldfischglases, das auf dem Schreibtisch im Zimmer von Leo stand.

Er hatte eine schicke Plastikburg, eine grüne, nimmermüde wedelnde Plastikpflanze und als Nachbarn Schneckbert, die gemütlichste Schnecke diesseits des Gartenteichs.

Normalerweise war Finni ein aufgeweckter kleiner Fisch. Er liebte es, Blasen zu jagen, Leo beim Hausaufgabenmachen zuzusehen (auch wenn er von Mathe nicht viel verstand) und elegante Kreise durch sein kleines Reich zu ziehen.

Doch an diesem Abend war alles anders.

Es begann mit einem kleinen Kribbeln in den Kiemen.

Dann ein unwiderstehlicher Drang, das Maul weit aufzureißen.

Und dann passierte es: GÄÄÄÄHN!

Ein Gähnen so groß und blubbrig, dass kleine Luftblasen wie Seifenballons zur Wasseroberfläche stiegen und leise zerplatzten.

„Huch?“, dachte Finni. „War ich das? Komisch, ich fühle mich gar nicht müde.

Er schwamm eine Runde um seine Burg, begrüßte Schneckbert mit einem Flossenschlag (Schneckbert brauchte immer eine Weile, um zurückzuwinken) und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln.

Aber kaum hatte er die Plastikpflanze erreicht, kam es wieder.

GÄÄÄÄHN!

Diesmal noch größer, noch blubbriger. Finni klappte das Maul wieder zu und schaute sich verwirrt um.

Das Merkwürdige war: Sein Gähnen schien ansteckend zu sein, aber auf eine sehr seltsame Weise.

Der Teddybär auf dem Regal gegenüber ließ plötzlich einen Arm ganz schlaff herunterbaumeln, als hätte er vergessen, wozu Arme gut sind.

Ein Staubwedel unter dem Bett, der aussah wie ein graues, flauschiges Kaninchen, rollte sich noch ein bisschen enger zusammen und seufzte leise (oder war das nur der Wind?).

Sogar der Mondstrahl, der durchs Fenster fiel und einen hellen Fleck auf den Teppich malte, schien irgendwie matter zu werden, als würde er ein kurzes Nickerchen einlegen.

„Sehr seltsam“, blubberte Finni vor sich hin. „Ich gähne, und die ganze Welt wird schläfrig? Das ist ja fast wie eine Superkraft! Eine sehr, sehr schläfrige Superkraft.

Er schwamm zu Schneckbert hinüber, der gerade an einem Algenblatt knabberte. Oder zumindest sah es so aus. Bei Schneckbert war Bewegung immer relativ.

„Schneckbert!“, rief Finni. „Hast du das gesehen? Ich glaube, ich habe das Gähnen erfunden!“

Schneckbert drehte laaangsaaam seinen Kopf mit den Fühlern. „Gähnen…?“, murmelte er gedehnt. „Ist… wichtig… für… gähn… die… Entspannung…“

Ein winziges Luftbläschen löste sich von Schneckberts Mund.

Nein, nein, du verstehst nicht!“, blubberte Finni aufgeregt. „Ich gähne, obwohl ich nicht müde bin! Und alles um mich herum wird müde! Es ist ein Rätsel! Ein gähnendes Geheimnis!

Finni fühlte sich plötzlich wie ein Detektiv. Detektiv Finni auf der Spur des großen Gähnens.

Er beschloss, sein Reich systematisch zu untersuchen.

Zuerst die Burg. Er schwamm durch die Torbögen, spähte in die leeren Fenster. Nichts Verdächtiges. Nur der übliche Sand.

Dann die Plastikpflanze. Er stupste sie mit der Nase an. „Na? Irgendwas Ungewöhnliches bemerkt?“, fragte er.

Die Pflanze wedelte nur stumm hin und her. Sie war nicht sehr gesprächig.

„Vielleicht kommt es von außen?“, überlegte Finni.

Er schwamm dicht an die Glaswand und spähte hinaus in Leos Zimmer.

Der Schreibtisch war wie immer ein wenig unordentlich. Stifte lagen herum, ein Radiergummi, ein paar Bauklötze.

Aber da war etwas Neues. Direkt neben seinem Glas lag ein aufgeschlagenes Buch.

Leo hatte es wohl dort vergessen.

Finni schwamm näher heran, soweit es das Glas erlaubte. Er konnte die Bilder sehen.

Es waren Bilder von Fischen. Aber nicht von normalen Fischen wie ihm.

Da war ein Fisch mit einer leuchtenden Angel auf dem Kopf, der tief unten im dunklen Meer lebte und ein riesiges, zahniges Maul aufriss – GÄHN!

Daneben ein anderer, seltsam aussehender Fisch, der aussah wie ein trauriger Wackelpudding und träge am Meeresboden lag – GÄHN!

Und noch einer, der fast nur aus einem riesigen Maul zu bestehen schien und es weit aufriss – GÄHN!

Seite für Seite zeigte das Buch die bizarrsten, schläfrigsten und am ausgiebigsten gähnenden Tiefseebewohner, die man sich vorstellen konnte.

Finni starrte auf die Bilder. Er starrte auf den gähnenden Anglerfisch. Er starrte auf den dösenden Blobfisch.

Und plötzlich machte es Klick in seinem kleinen Goldfischhirn.

Natürlich!“, blubberte er. „Ich habe die ganze Zeit auf diese Gähn-Bilder gestarrt! Kein Wunder, dass ich selbst gähnen muss! Es ist wie Guck-Gähnen!

Er musste so sehr über seine eigene Entdeckung kichern, dass lauter kleine Bläschen aufstiegen.

In diesem Moment kam Leo ins Zimmer. Er trug seinen Schlafanzug und rieb sich die Augen.

„Na, Finni? Bist du auch schon müde?“, fragte er und sah das aufgeschlagene Buch.

Er schmunzelte. „Ach, das Tiefseebuch. Die sehen wirklich immer so verschlafen aus, findest du nicht auch?“

Leo klappte das Buch vorsichtig zu und schob es ein Stück zur Seite.

Finni beobachtete ihn. Und siehe da! Das Kribbeln in den Kiemen ließ nach. Der unwiderstehliche Drang zu gähnen verschwand.

Er schwamm eine fröhliche Runde durch sein Glas.

Das Geheimnis war gelöst! Es war das Buch gewesen! Nicht er hatte eine schläfrige Superkraft, er hatte sich nur vom Gähnen der Tiefseefische anstecken lassen.

Leo machte das kleine Nachtlicht an und kletterte in sein Bett.

„Schlaf gut, Finni“, murmelte er schon halb im Traum.

Finni gähnte noch einmal. Aber diesmal war es ein echtes, zufriedenes, müdes Gähnen.

Es war ja auch Schlafenszeit.

Er kuschelte sich in die Nähe seiner Burg, schaute noch einmal zu Schneckbert hinüber, der jetzt wirklich aussah, als würde er tief und fest schlafen.

„Gute Nacht, schläfrige Welt“, dachte Finni.

Und dann schloss er die Augen und träumte – nicht von gähnenden Tiefseemonstern, sondern von leckeren Algenflocken und lustigen Blubberblasen.