
Die kleine Wolke Wilma möchte lieber spielen statt zu regnen. Der Mond erklärt ihr liebevoll, warum der Regen für die Erde wichtig ist.
Wilma war eine kleine, flauschige Schäfchenwolke.
Sie schwebte hoch oben am Abendhimmel, direkt über einem verschlafenen Städtchen.
Die Sonne war schon fast untergegangen und hatte den Himmel in die schönsten Orange- und Rosatöne getaucht.
Alle anderen Wolken um Wilma herum wurden langsam schwerer und dunkler.
Sie machten sich bereit, als sanfter Regen auf die Erde zu fallen.
Das war sozusagen die Wolken-Bettgehzeit.
Aber Wilma? Wilma wollte überhaupt nicht ins Bett getropft werden!
„Nö!“, murmelte sie vor sich hin und schüttelte ihre watteweichen Ränder.
„Ich bin noch gar nicht müde.“
Sie schaute nach unten auf die Lichter der Stadt, die wie winzige Sterne funkelten.
„Da unten ist es bestimmt noch spannend!“, dachte sie.
Ein alter, großer Wolkenherr namens Barnabas grummelte neben ihr.
Barnabas war schon ganz grau und schwer, fast wie ein riesiger Waschlappen am Himmel.
„Na, Wilma? Wirst du auch schon schön schwer? Zeit für die Nachtruhe und das große Tropfenlassen“, brummte er.
Barnabas ließ schon ein paar dicke, langsame Probetropfen fallen, die platschend auf die Dächer unten trafen.
„Pah!“, machte Wilma und schnaubte ein bisschen Wolkendampf aus. „Schwer werden ist langweilig. Ich will lieber noch spielen!“
Sie pustete sich kräftig auf, versuchte, noch flauschiger und leichter auszusehen als sie schon war.
Sie hüpfte von einer unsichtbaren Luftströmung zur nächsten, wie auf einem Himmels-Trampolin.
„Huiii!“, rief sie und machte einen kleinen Looping, dass ihre Ränder nur so wackelten.
Ein paar winzige Wassertröpfchen, die sie noch nicht ganz festhalten konnte, lösten sich dabei von ihr und fielen kichernd nach unten.
„Ups!“, kicherte Wilma auch. „Kleine Ausreißer!“
Der Mond, der gerade groß und silbern hinter einem Hügel aufging, schaute freundlich auf die kleine, übermütige Wolke.
Sein Licht war sanft und kühl.
„Wen haben wir denn da, der noch so munter durch meinen Himmel tanzt?“, fragte der Mond mit seiner ruhigen, tiefen Stimme, die klang wie leises Glockenspiel.
„Ich bin’s, Wilma!“, rief die Wolke zurück und wedelte mit einem Zipfel. „Ich will nicht regnen! Ich will wach bleiben!“
„Nicht regnen?“, wunderte sich der Mond und zog eine imaginäre Augenbraue hoch. „Aber warum denn nicht, kleine Wolke? Alle anderen machen sich schon bereit.“
„Weil… weil dann bin ich ja weg!“, erklärte Wilma. „Dann bin ich nur noch lauter Pfützen auf der Erde. Und das ist nass und kalt.“
Sie zog einen flauschigen Schmollmund, der aussah wie ein kleiner Wattebausch.
„Und außerdem ist hier oben viel mehr los! Schau mal, die Sterne fangen an zu blinken! Die wollen bestimmt Fangen spielen!“
Tatsächlich begannen die ersten Sterne am dunkler werdenden Himmel zu funkeln, wie kleine Diamanten auf Samt.
Wilma versuchte, einen der Sterne zu fangen, der besonders hell blinkte.
Sie streckte einen wattigen Arm aus, so lang sie konnte, aber der Stern war viel zu weit weg und zwinkerte ihr nur neckisch zu.
„Die kitzeln so schön in den Augen!“, sagte sie lachend.
Der Mond lächelte sein silbernes Lächeln. „Die Sterne bleiben die ganze Nacht, Wilma. Sie passen auf, während die Welt schläft. Und weißt du, was die Pfützen machen, wenn du geregnet hast?“
Wilma schüttelte den Wolkenkopf, dass die Flusen nur so flogen. „Nass sein? Und die Gummistiefel der Kinder schmutzig machen?“
„Auch“, schmunzelte der Mond. „Aber sie spiegeln auch das Licht. Mein Licht und das der Sterne. Dann funkeln die Sterne nicht nur am Himmel, sondern auch unten auf der Erde.“
„Echt?“, fragte Wilma neugierig. „Dann gibt es doppelt so viele Sterne?“
„Fast“, sagte der Mond. „Und weißt du, wer sich noch ganz besonders über den Regen freut?“
Wilma überlegte angestrengt. „Die Regenwürmer, weil sie dann besser rutschen können?“
„Die auch“, sagte der Mond geduldig. „Aber denk mal an die Blumen im Garten dort unten. Siehst du die kleinen dunklen Flecken?“
Wilma schaute wieder konzentriert nach unten. Sie konnte gerade noch die Umrisse der Gärten und Beete erkennen.
„Die Blumen? Was ist mit denen? Die schlafen doch bestimmt schon.“
„Sie sind sehr müde und durstig“, erklärte der Mond sanft. „Sie haben den ganzen Tag in der warmen Sonne gestanden und ihre schönen Köpfe gereckt. Jetzt sind ihre Wurzeln ganz trocken und sie warten sehnsüchtig auf dich, Wilma.“
„Auf mich?“, staunte die kleine Wolke. „Warum denn ausgerechnet auf mich?“
„Ja, auf deinen sanften Regen. Er ist wie ein kühles, erfrischendes Getränk für sie nach einem langen, heißen Tag. Wie eine Limonade für Blumen. Dann können sie gut schlafen und morgen früh wieder stark und wunderschön blühen.“
Wilma wurde nachdenklich. Durstige Blumen, die auf sie warteten? Das klang irgendwie wichtig.
„Und nicht nur die Blumen“, fuhr der Mond fort. „Auch die großen Bäume mit ihren vielen Blättern und das Gras auf der Wiese. Und die kleinen Tiere im Wald, die Igel und die Mäuse, die Frösche im Teich, sie alle brauchen das Wasser, um zu leben und zu trinken.“
Wilma stellte sich vor, wie eine kleine, rote Mohnblume gierig die Regentropfen trank und dabei leise seufzte vor Glück.
Sie stellte sich vor, wie die Blätter der großen Linde im Park im Regen glänzten und sauber gewaschen wurden.
Das klang eigentlich ganz schön. Helfen war ein gutes Gefühl.
„Aber… werde ich dann wirklich ganz weg sein? Nur noch eine Pfütze?“, fragte sie leise, immer noch ein bisschen unsicher.
„Nicht für immer“, tröstete der Mond. „Das ist ja das Wunderbare am Wasser. Schau, wenn die Sonne morgen früh aufgeht und scheint, wärmt sie die Pfützen und das nasse Gras und die Blätter.“
„Und dann?“, fragte Wilma gespannt, ihre Neugier war geweckt.
„Dann steigt das Wasser wieder als winziger, unsichtbarer Dampf nach oben. Ganz leicht und unsichtbar. Höher und höher in den Himmel.“
„Und dann… dann werde ich wieder eine Wolke?“, rief Wilma aufgeregt und hüpfte fast.
„Ganz genau“, bestätigte der Mond mit einem Nicken. „Du sammelst dich wieder mit vielen anderen kleinen Wassertröpfchen und wirst wieder eine flauschige Wolke wie jetzt. Vielleicht sogar noch größer und schöner. Es ist ein ewiger Kreislauf, wie ein Ringelreihen.“
Ein Kreislauf. Wie Ringelreihen. Das klang nach Spaß.
Wilma schaute zu Barnabas hinüber, der jetzt als dichter, aber immer noch sanfter Regen auf die Stadt niederging. Es sah friedlich und irgendwie richtig aus.
Sie spürte, wie sie selbst langsam schwerer wurde. Die vielen kleinen Wassertröpfchen in ihr kuschelten sich enger zusammen, als ob sie sich auf die Reise vorbereiteten.
Es war gar kein unangenehmes Gefühl mehr. Eher gemütlich und wohlig. Wie unter einer warmen, schweren Decke.
„Die Blumen warten…“, murmelte Wilma vor sich hin. „Und die Bäume. Und die Frösche.“
Sie dachte an die durstigen kleinen Köpfchen im Garten unter ihr.
Sie dachte daran, wie sie morgen früh wieder als unsichtbarer Dampf aufsteigen und vielleicht sogar noch höher fliegen könnte als heute. Bis zu den Eiskristallwolken!
„Na gut“, sagte sie schließlich zum Mond. Ihre Stimme klang jetzt viel ruhiger. „Vielleicht ist Regen ja doch nicht so doof. Vielleicht ist es sogar wichtig.“
Der Mond lächelte warm und silbern. „Es ist sehr wichtig, kleine Wilma. Genauso wichtig wie das Spielen und Lachen am Tag. Alles hat seine Zeit.“
Wilma atmete tief durch, sog die kühle Nachtluft ein.
Sie ließ sich langsam sinken, näher zur Erde, über die schlafenden Gärten.
Sie konzentrierte sich. Nicht zu schnell, nicht zu heftig. Sie wollte ja keine Blumen umknicken.
Nur ein ganz sanfter, leiser Regen sollte es sein. Wie eine liebevolle Gute-Nacht-Dusche für die durstige Erde.
Plitsch, platsch.
Die ersten Tropfen lösten sich von ihr, ganz leicht.
Sie fielen leise auf die Dächer der Stadt, trommelten sanft auf Fensterbänke, auf die Blätter der Bäume und versickerten in der dunklen Erde der Gärten.
Wilma schloss ihre nicht vorhandenen Wolkenaugen und stellte sich vor, wie die Wurzeln der Blumen die Tropfen aufsogen.
„Gute Nacht, Blümchen“, flüsterte sie mit dem Wind. „Trinkt schön.“
Plitsch, platsch, plitsch.
Es war ein beruhigendes, rhythmisches Geräusch. Wie ein Schlaflied.
Sie fühlte sich leicht und zufrieden, während sie sich langsam auflöste.
Sie regnete sanft und gleichmäßig, bis sie fast ganz aus unzähligen kleinen Tröpfchen bestand, die zur Erde schwebten.
Unten auf der Erde roch es wunderbar frisch und sauber nach Sommerregen.
Ein kleines Mädchen stand am Fenster ihres Zimmers und schaute hinaus in den sanften Regen. „Mama, hör mal! Es regnet! Der Schlafwolken-Regen ist da! Jetzt können die Blumen trinken!“
Wilma, oder das, was von ihr als Bewusstsein übrig war, hörte das fast noch.
Sie musste lächeln, auch wenn sie keine richtige Wolkenform mehr hatte, um es zu zeigen.
Sie war jetzt überall ein bisschen. In den glitzernden Pfützen auf der Straße, auf den nassen Blättern der Rosenbüsche, tief in der durstigen Erde.
Und sie wusste, morgen würde die Sonne scheinen.
Und dann würde sie wieder aufsteigen, leicht und frei.
Vielleicht würde sie morgen ja bis zu den ganz hohen Zirruswolken fliegen und mit den Eiskristallen tanzen!
Das wäre ein neues Abenteuer.
Aber jetzt war es Zeit, die Blumen zu tränken und selbst ein bisschen auszuruhen, verteilt auf der ganzen schlafenden Welt unter ihr.
Der Mond wachte über die stille Stadt und die zufriedenen, nassen Gärten.
Und irgendwo da unten war auch Wilma, ganz ruhig und entspannt, bereit für den nächsten Tag und den ewigen Kreislauf.
Gute Nacht, kleine Wilma. Schlaf gut und träum vom Fliegen.