Karlchens entflogenes Gähnen

Karlchens entflogenes Gähnen

Karlchens Gähner macht sich selbstständig und erlebt ein nächtliches Abenteuer im Haus und Garten, bevor er müde zu Karlchen zurückkehrt.

Karlchen saß auf seinem Bett, die Beine baumelten über der Kante. Draußen wurde es langsam dunkel, und die Sterne blinzelten schon vorsichtig durch das Fenster.

Mama hatte ihm gerade die Geschichte vom mutigen Ritter vorgelesen, der gegen einen Drachen kämpfte, der lieber Gänseblümchen aß als Feuer zu spucken.

Eine schöne Geschichte, fand Karlchen, aber jetzt waren seine Augenlider schwer wie zwei kleine Mehlsäcke.

„Zeit fürs Bett, mein kleiner Abenteurer“, sagte Mama, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und deckte ihn bis zum Kinn zu.

Karlchen kuschelte sich in sein Kissen. Es roch nach frischer Wäsche und ein bisschen nach Traumland.

Er war wirklich müde. Gähn-müde.

Ein riesiges Gähnen kündigte sich an. Es kribbelte in seiner Nase, zog sich durch seinen ganzen Körper und wollte unbedingt heraus.

Karlchen öffnete den Mund, sperrte ihn auf wie ein kleines Nilpferd… Aaaaahhhh…

Doch bevor das Gähnen richtig herauskommen konnte, passierte etwas Seltsames.

Plopp! machte es leise.

Wie eine kleine Seifenblase löste sich das Gähnen von seiner Zungenspitze und schwebte davon!

Karlchen klappte den Mund zu und starrte dem Ding hinterher. Was war das denn?

Das Gähnen war fast unsichtbar, wie ein kleiner Hauch warmer Luft, der im Zimmer tanzte. Es schimmerte ein ganz kleines bisschen, wenn das Mondlicht darauf fiel.

Es war sein Gähnen! Einfach so abgehauen!

„He!“, flüsterte Karlchen empört. „Du gehörst doch zu mir!“

Aber das entflogene Gähnen hörte nicht. Es schwebte gemütlich durch den Raum, direkt auf Bruno zu, Karlchens Lieblings-Teddybär, der auf dem Stuhl saß.

Das Gähnen stupste Bruno sanft an die Plüschnase.

Bruno, der sonst immer kerzengerade dasaß, sackte plötzlich ein wenig zusammen. Seine Knopfaugen schienen noch müder als sonst, und sein Kopf neigte sich zur Seite, als würde er gleich einschlummern.

„Siehst du?“, flüsterte Karlchen seinem entflohenen Gähnen zu. „Jetzt hast du Bruno angesteckt!“

Das Gähnen kümmerte das wenig. Es drehte eine kleine Pirouette in der Luft und schwebte zur Tür hinaus, die einen Spalt offen stand.

Karlchen rutschte vorsichtig aus dem Bett. Auf leisen Sohlen folgte er dem schimmernden Nichts.

Im Flur stand die alte Standuhr, die Opa gebaut hatte. Sie tickte immer zuverlässig: Tick-Tack, Tick-Tack.

Das Gähnen schwebte zum Ziffernblatt hinauf und tanzte kurz vor dem großen Zeiger.

Plötzlich machte die Uhr nur noch: Tiiiiick… … … Taaaack…

Sie wurde langsamer! Als ob sie selbst gähnen müsste.

Karlchen kicherte leise. Ein gähnendes Uhrwerk, das hatte er ja noch nie erlebt.

Weiter ging die Reise des Gähnens. Es schwebte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.

Dort lag auf dem Sofa Miezi, die Katze, und schlief tief und fest. Sie schnurrte leise vor sich hin.

Das Gähnen umkreiste Miezi einmal, wie ein kleines Raumschiff, das einen schlafenden Planeten erkundet.

Dann stupste es sie ganz sanft an die Barthaare.

Miezi hörte kurz auf zu schnurren. Sie streckte alle vier Pfoten von sich, machte einen unglaublich langen Katzenbuckel und gähnte selbst – ein riesiges, lautloses Katzengähnen, bei dem man bis zu den Mandeln schauen konnte.

Danach rollte sie sich noch fester zusammen und schlief sofort weiter, noch tiefer als zuvor.

„Na toll“, murmelte Karlchen. „Jetzt sind Bruno, die Uhr und Miezi wegen dir extra müde. Und ich bin immer noch wach!“

Er fühlte sich zwar müde, aber das richtige, große, befriedigende Gähnen fehlte ihm.

Das kleine, schimmernde Gähnen schien sich im Wohnzimmer umzusehen. Es beäugte die Topfpflanze auf der Fensterbank (die ließ prompt ein Blatt hängen), es schwebte am Bücherregal vorbei (die Bücher sahen plötzlich sehr alt und staubig aus) und tanzte dann zum Fenster.

Das Fenster war gekippt.

„Oh nein!“, dachte Karlchen. „Nicht nach draußen!“

Doch genau das tat das Gähnen. Es schlüpfte durch den Spalt und war verschwunden.

Karlchen tapste zum Fenster und spähte hinaus in den Garten.

Der Mond schien hell auf die Wiese. Und da war es! Sein Gähnen!

Es schwebte über die Rosen, die sofort ihre Köpfe sinken ließen, als bräuchten sie dringend Schlaf.

Dann tanzte es zum Gartenzwerg, der mit seiner Angel am kleinen Teich stand. Herr Knirschmann hieß der Zwerg.

Das Gähnen umrundete Herrn Knirschmanns Zipfelmütze.

Und tatsächlich! Der sonst so munter dreinblickende Gartenzwerg bekam plötzlich ganz schwere Augenlider. Seine gemalte Miene wirkte auf einmal unglaublich verschlafen. Er stand zwar noch, aber er sah aus, als würde er im Stehen dösen.

Karlchen musste grinsen. Ein schlafender Gartenzwerg! Das war wirklich komisch.

Aber er wollte sein Gähnen zurück. Es gehörte doch zu ihm!

„Komm zurück!“, flüsterte er hinaus in die Nacht. „Ich brauche dich zum Einschlafen!“

Das Gähnen hatte nun anscheinend genug von seinem Ausflug. Es hatte Bruno müde gemacht, die Uhr verlangsamt, Miezi zum Extra-Gähnen gebracht, die Blumen schläfrig gestupst und Herrn Knirschmann fast ins Reich der Träume geschickt.

Es schien selbst ein wenig müde geworden zu sein von seiner Reise.

Langsam, ganz langsam, schwebte es zurück zum Fenster.

Es zögerte einen Moment, als wollte es sagen: „War schön draußen, aber jetzt bin ich auch müde.“

Dann schlüpfte es wieder durch den Fensterspalt ins Wohnzimmer.

Karlchen hielt die Luft an.

Das Gähnen schwebte die Treppe wieder hoch, vorbei an der immer noch langsam tickenden Uhr.

Es schwebte durch den Flur, zurück in Karlchens Zimmer.

Bruno saß immer noch schläfrig auf dem Stuhl.

Das Gähnen kam direkt auf Karlchen zu. Es wurde ein bisschen größer, ein bisschen deutlicher.

Karlchen spürte wieder dieses Kribbeln in der Nase, dieses Ziehen im ganzen Körper.

Er öffnete den Mund…

Und diesmal kam es ganz heraus! Ein riesiges, wunderbares, lautes GÄÄÄÄÄÄHN!

„AAAAHHHHHH-HHHHMMMM!“

Es war das beste Gähnen des ganzen Tages. Vielleicht sogar der ganzen Woche!

Sofort fühlte Karlchen sich noch viel, viel müder als zuvor. Seine Augen fielen ihm fast von alleine zu.

Er krabbelte schnell zurück in sein Bett, zog die Decke hoch und kuschelte sich tief ins Kissen.

Er hörte noch, wie die Standuhr im Flur wieder ihren normalen Rhythmus fand: Tick-Tack, Tick-Tack.

Er lächelte in sein Kissen hinein. Sein Gähnen war wieder da, wo es hingehörte.

Es war ein bisschen herumgekommen, hatte die Welt ein kleines bisschen müder gemacht, aber jetzt war es zurück.

Und mit diesem wunderbar großen Gähnen im Bauch schlief Karlchen sofort ein, noch bevor Mama nach ihm sehen konnte.

Er träumte von schwebenden Gähnern, die müde Gartenzwerge anstupsten und langsam tickenden Uhren gute Nacht sagten.