
Ein kleiner Apfelschnitz sucht nachts in der Küche seinen fehlenden „Kuschelkern“ und lernt dabei von anderen Küchenbewohnern etwas Wichtiges.
Es war einmal ein kleiner Apfelschnitz namens Schnitzi.
Er lag auf einem blitzblanken Porzellanteller, direkt neben seinen Geschwistern, anderen Apfelschnitzen, die genauso rotbackig und saftig aussahen wie er.
Die Sonne war schon längst hinter den Hügeln verschwunden, und nur der Mond warf ein sanftes, silbernes Licht durch das Küchenfenster.
Alle anderen Schnitze schliefen schon tief und fest. Aber Schnitzi konnte einfach kein Auge zumachen.
Ihm fehlte etwas. Etwas Wichtiges.
Er wusste nicht genau, was es war, aber er spürte eine kleine Leere in seiner Mitte, genau dort, wo die anderen, ganzen Äpfel immer so ein gemütliches, kleines Haus hatten.
„Mein Kernhaus…“, murmelte Schnitzi leise vor sich hin. „Aber nicht nur irgendein Kernhaus. Ich glaube, mir fehlt mein Kuschelkern!“
Ja, das musste es sein! Ein Kuschelkern! Ein kleiner, runder Kern, an den man sich ankuscheln konnte, wenn es dunkel wurde. Bestimmt hatten alle glücklichen Apfelstücke einen.
„Ich muss ihn finden!“, beschloss Schnitzi mutig.
Mit viel Mühe und ein bisschen Gewackel rollte er vorsichtig vom Tellerrand.
Plopp!
Er landete weich auf der kühlen Küchentheke.
Es war ganz still in der Küche. Nur das leise Summen des Kühlschranks war zu hören und das Ticken der großen Wanduhr.
Schnitzi schaute sich um. Die Küchentheke war riesig! Wie ein weites Land aus glattem Stein.
Er rollte ein Stückchen weiter, vorbei an einem glänzenden Toaster, der aussah wie ein silbernes Raumschiff.
Plötzlich hörte er ein leises Rascheln und Seufzen.
„Huch? Wer ist da?“, piepste Schnitzi.
Über dem Rand einer bunten Tasse baumelte ein kleiner Beutel an einem Faden. Er sah müde aus.
„Och, sei doch still“, murmelte der Beutel schläfrig. „Ich versuche gerade, von warmem Wasser zu träumen.“
„Wer bist du denn?“, fragte Schnitzi neugierig.
„Ich bin Theo. Ein Teebeutel. Pfefferminz, um genau zu sein. Und wer stört meinen Schlummertrunk?“, gähnte Theo.
„Ich bin Schnitzi, ein Apfelschnitz. Ich suche meinen Kuschelkern! Hast du ihn vielleicht gesehen?“
Theo blinzelte mit seinem kleinen Papierfähnchen. „Einen Kuschelkern? Was ist das denn? Ich kenne nur Teeblätter. Und Kerne… nun ja, die sind normalerweise in den Äpfeln drin, bevor sie zu Schnitzen werden, mein kleiner saftiger Freund.“
„Aber ich brauche ihn doch!“, sagte Schnitzi traurig.
„Hmm“, machte Theo und schaukelte sanft hin und her. „Vielleicht ist er ja runtergefallen? Schau mal beim großen Schneidebrett vorbei. Da liegen manchmal seltsame Dinge herum.“
Schnitzi bedankte sich und rollte weiter, dem Rat des müden Teebeutels folgend.
Er erreichte ein großes Holzbrett. Es roch ein bisschen nach Zwiebeln und Brot.
Und tatsächlich, am Rand des Brettes lag etwas Dunkles, Hartes.
„Hallo? Bist du mein Kuschelkern?“, fragte Schnitzi hoffnungsvoll.
Ein mürrisches Knurren war die Antwort.
„Kuschelkern? Ich sehe aus wie ein Kuschelkern? Ich bin Krusti! Eine Brotkruste! Und zwar eine sehr trockene und sehr schlecht gelaunte!“, brummte das harte Stück.
„Oh, Entschuldigung“, sagte Schnitzi eingeschüchtert. „Ich suche nur meinen Kern.“
Krusti schnaubte verächtlich. „Kerne, Kerne. Die werden doch meistens weggeworfen oder gegessen. Wahrscheinlich ist deiner längst im Magen von irgendwem gelandet. Kuschlig ist da gar nichts dran. Sei froh, dass du noch hier bist und nicht schon längst… na ja, du weißt schon.“
Schnitzi wurde noch trauriger. War sein Kuschelkern wirklich weg? Für immer?
„Aber… ich fühle mich so unvollständig ohne ihn“, flüsterte er.
Krusti knirschte. „Ach, Unsinn. Sei lieber froh, dass du nicht so hart und trocken bist wie ich. Jetzt roll weiter, du störst meine Ruhe.“
Mit hängendem… nun ja, mit hängender Rundung rollte Schnitzi weiter.
Er kam an einem Korb vorbei, der bis oben hin gefüllt war mit allerlei Gemüse.
Aus der Dunkelheit des Korbes lugten zwei kleine, tiefliegende Augen hervor.
„Na, wen haben wir denn da in der späten Stunde?“, fragte eine ruhige, erdige Stimme.
Schnitzi blickte auf. Eine große, runzlige Kartoffel schaute ihn freundlich an.
„Ich bin Schnitzi. Ein Apfelschnitz“, stellte er sich vor. „Und ich… ich suche meinen Kuschelkern.“
Die Kartoffel lächelte weise. „Ah, ein Apfelschnitz. Ich bin Karl. Kartoffel Karl. Ich liege schon eine Weile hier und habe schon viele Äpfel kommen und gehen sehen. Und auch viele Schnitze.“
Karl rückte ein wenig zur Seite. „Setz dich doch, äh, roll dich doch ein bisschen näher.“
Schnitzi rollte an den Korbrand.
„Ein Kuschelkern, sagst du?“, fragte Karl nachdenklich. „Weißt du, Schnitzi, die Kerne, die sind im Kernhaus, im Herzen des ganzen Apfels. Wenn der Apfel geteilt wird, um Schnitze wie dich zu machen, dann bleibt das Kernhaus oft zurück oder wird entfernt.“
„Aber warum?“, fragte Schnitzi.
„Nun“, erklärte Karl geduldig, „ein Schnitz wie du hat eine andere Aufgabe. Du bist nicht mehr dazu da, einen neuen Baum wachsen zu lassen, wie ein Kern. Du bist dazu da, lecker zu schmecken, gegessen zu werden und jemandem eine Freude zu machen. Das ist auch etwas sehr Wichtiges und Schönes!“
Schnitzi dachte nach. Gegessen werden? Freude machen?
„Du meinst, ich brauche gar keinen Kuschelkern, um… um vollständig zu sein?“, fragte er leise.
„Ganz genau!“, nickte Karl. „Du bist ein perfekter Apfelschnitz. Genau so, wie du bist. Saftig, süß und bereit für dein eigenes kleines Abenteuer – auch wenn das vielleicht auf einem Frühstücksteller endet.“
Karl zwinkerte ihm zu.
Schnitzi spürte, wie die Leere in seiner Mitte gar nicht mehr so leer war. Sie fühlte sich anders an. Nicht traurig, sondern… offen.
Er war ein Schnitz! Und das war gut so!
Er musste keinen Kern suchen. Er war schon da, genau richtig.
„Danke, Karl!“, sagte Schnitzi und fühlte sich auf einmal viel leichter und fröhlicher.
„Gern geschehen, kleiner Schnitzi“, brummte Karl zufrieden. „Jetzt roll dich aber irgendwo gemütlich zusammen. Die Nacht ist zum Schlafen da.“
Schnitzi verabschiedete sich und rollte zu einem glitzernden Würfel, der neben dem Toaster lag. Es war ein Zuckerwürfel, der süß duftete.
Er kuschelte sich dicht an den Zuckerwürfel.
Es war zwar kein Kuschelkern, aber es fühlte sich trotzdem warm und geborgen an.
Schnitzi schloss die Augen.
Er träumte nicht von Kernen, sondern davon, wie er am nächsten Morgen auf einem bunten Teller liegen würde, vielleicht neben einem Klecks Joghurt, und wie ein Kind sich freuen würde, ihn zu essen.
Und das war ein wunderschöner Traum für einen kleinen, mutigen Apfelschnitz, der gelernt hatte, dass er genau richtig war, so wie er war.
Schlaf gut, kleiner Schnitzi.