
Ein kleiner Schatten will nicht schlafen gehen und erlebt lustige Abenteuer, während sein Junge versucht, ins Bett zu kommen. Eine Gute-Nacht-Geschichte.
Es war Schlafenszeit im Haus von Paulchen. Draußen zwinkerten schon die ersten Sterne, und der Mond lugte neugierig durchs Fenster.
Paulchen, ein kleiner Junge mit Haaren wie verwuschelte Strohhalme, gähnte herzhaft. Ein langer Tag voller Sandburgenbauen und Seifenblasenjagen lag hinter ihm.
Er tapste ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Doch als er zur Zahnbürste griff, bemerkte er etwas Seltsames.
Sein Schatten an der Wand tat nicht genau das, was er tat.
Normalerweise war sein Schatten ein braver Begleiter. Er hob den Arm, wenn Paulchen den Arm hob. Er hüpfte, wenn Paulchen hüpfte. Aber heute Abend… heute Abend war der Schatten anders.
Als Paulchen die Zahnpasta auf die Bürste drückte, machte sein Schatten an der Wand eine wilde Pirouette.
„He!“, murmelte Paulchen mit vollem Mund. „Was machst du denn da?“
Der Schatten zuckte nur mit seinen schattigen Schultern und machte einen Hampelmann.
Paulchen putzte seine Zähne – oben, unten, links und rechts. Sein Schatten aber benutzte seine Schatten-Zahnbürste wie einen Dirigentenstab und dirigierte ein unsichtbares Orchester an der Badezimmerwand.
„Du bist heute aber komisch drauf“, sagte Paulchen, als er den Mund ausspülte. Der Schatten verbeugte sich tief.
Zurück im Kinderzimmer zog Paulchen seinen Schlafanzug an. Es war ein blauer mit kleinen Raketen drauf.
Er erwartete, dass sein Schatten dasselbe tun würde. Aber nein! Der Schatten versuchte, sich Paulchens T-Shirt-Schatten über den Kopf zu ziehen, was natürlich nicht funktionierte und sehr albern aussah.
Er zappelte und verdrehte sich, als wäre der Schlafanzug-Schatten viel zu eng oder kitzelig.
„Hör auf damit!“, kicherte Paulchen. „Wir müssen schlafen.“
Der Schatten schüttelte energisch seinen Schattenkopf. Er zeigte auf das Spielzeugauto in der Ecke, dann auf das Bilderbuch auf dem Nachttisch. Er wollte weiterspielen!
Paulchen seufzte. „Aber Schatten spielen doch nicht, wenn es dunkel ist. Schatten schlafen, wenn ihre Menschen schlafen.“
Der Schatten stemmte seine Schattenhände in die Hüften. Das sah er offenbar ganz anders.
Als Paulchen ins Bett kletterte, blieb der Schatten einfach am Boden stehen. Er faltete die Arme und sah beleidigt aus.
„Komm schon“, lockte Paulchen und klopfte neben sich auf die Matratze. „Hier ist es gemütlich.“
Der Schatten tippelte zur Wand neben dem Bett. Er wurde ganz groß und breit, machte lange, dünne Finger und versuchte, wie ein gruseliges Monster auszusehen.
Paulchen musste gähnen. „Du bist nicht gruselig, du bist nur müde.“
Der Schatten ließ die Monsterarme sinken. Er wurde wieder kleiner, fast Paulchens Größe. Dann hatte er eine neue Idee.
Er flitzte zur Tür und versuchte, sich unter dem Türspalt hindurchzuquetschen, als wolle er aus dem Zimmer fliehen und draußen im Flur weiter Unfug treiben.
„Das geht nicht“, erklärte Paulchen geduldig. „Du gehörst doch zu mir. Du kannst nicht einfach weglaufen.“
Der Schatten kam langsam zurückgeschlichen. Er sah ein bisschen enttäuscht aus.
Paulchen nahm sein Lieblingsbuch. „Okay, eine Seite noch, aber dann ist Schluss.“
Er schlug das Buch auf. Es war die Geschichte von einem mutigen Ritter und einem lustigen Drachen.
Paulchens Schatten beugte sich neugierig über die Buchseite an der Wand. Er ahmte die Schatten der Bilder nach, wurde mal zum Ritter, mal zum Drachen.
Als Paulchen das Buch zuklappte, protestierte der Schatten. Er versuchte, die Schattenseiten des Buches wieder aufzublättern, was natürlich unmöglich war.
„Schluss jetzt, wirklich“, sagte Paulchen bestimmt, aber freundlich. Er legte das Buch weg und kuschelte sich unter die Decke.
Der Schatten stand immer noch unschlüssig an der Wand. Er sah zum Fenster, wo der Mond jetzt hell schien. Vielleicht gab es draußen ja spannendere Schattenabenteuer?
„Weißt du, was das Beste am Schlafen ist?“, fragte Paulchen leise in die Stille hinein.
Der Schatten drehte seinen Kopf.
„Die Träume“, flüsterte Paulchen. „Im Traum können wir alles sein. Wir können fliegen, mit Walen sprechen oder auf dem Regenbogen rutschen.“
Der Schatten wurde hellhörig. Fliegen? Auf Regenbögen rutschen?
„Und weißt du was?“, fuhr Paulchen fort. „Ich glaube, Träume sind die geheime Abenteuerwelt für Schatten. Wenn wir schlafen, können unsere Schatten in den Träumen die tollsten Dinge erleben. Viel toller als hier im Zimmer herumzuhüpfen.“
Der Schatten schien darüber nachzudenken. Er tippte sich ans Schattenkinn.
Langsam, ganz langsam, glitt er die Wand hinunter und legte sich neben Paulchens Umriss aufs Bett. Er war immer noch etwas zappelig, aber die Neugier auf die Traumwelt schien größer zu sein als der Wunsch, wach zu bleiben.
Er kuschelte sich ganz nah an Paulchens Schattenform.
Paulchen lächelte im Halbdunkel. „Gute Nacht, mein lieber Schatten.“
Der Schatten bewegte sich nicht mehr. Er lag ganz still da, bereit für die Abenteuer, die im Land der Träume auf ihn warteten.
Paulchen schloss die Augen. Er hörte noch das leise Ticken der Uhr und das sanfte Rauschen des Windes draußen.
Bald darauf schlief er tief und fest ein. Und sein Schatten? Der war wahrscheinlich schon mitten im aufregendsten Traum-Abenteuer, flog vielleicht gerade mit einem freundlichen Drachen um die Wette zum Mond.
Und so wurde es ganz still in Paulchens Zimmer, nur der Mond schien herein und bewachte den schlafenden Jungen und seinen endlich zur Ruhe gekommenen, träumenden Schatten.