
Leo reist mit einer sprechenden Murmel auf seiner Murmelbahn in die Schlummerstadt, wo Träume verladen werden. Ein nächtliches Abenteuer beginnt.
Leo gähnte. Schon wieder Schlafenszeit. Er lag in seinem Bett und starrte auf die riesige Murmelbahn, die Papa mit ihm gebaut hatte. Sie zog sich quer durch sein Zimmer, über Regale, unter dem Schreibtisch hindurch und endete in einer großen Kiste neben seinem Bett.
Tagsüber war die Murmelbahn sein Lieblingsspielzeug. Er liebte es, die bunten Glaskugeln die gewundenen Pfade hinuntersausen zu lassen, durch Trichter, über Wippen und durch Spiralen.
Aber abends? Abends war die Murmelbahn still. Genauso still wie Leo sein sollte.
„Immer dieser Schlaf“, murmelte er leise in sein Kissen. „Viel lieber würde ich noch eine Runde murmeln.“
Plötzlich blitzte etwas im schwachen Licht der Nachttischlampe auf. Direkt oben am Start der Murmelbahn lag eine Murmel, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie war größer als die anderen, durchsichtig, aber mit einem seltsamen, inneren Leuchten, als hätte jemand ein winziges Glühwürmchen darin eingesperrt.
Neugierig rappelte Leo sich auf und tapste zum Start der Bahn. Er nahm die leuchtende Murmel in die Hand. Sie fühlte sich warm an und vibrierte ganz leicht.
„Wo kommst du denn her?“, flüsterte Leo.
„Na, woher wohl? Vom Warten“, knarzte eine überraschend tiefe Stimme direkt aus der Murmel. „Ich warte darauf, dass es endlich losgeht. Bist du der Lokführer oder nur ein Gaffer?“
Leo ließ die Murmel fast fallen. „Du… du kannst sprechen?“
„Natürlich kann ich sprechen. Ich bin Klicker, der Express-Kurier zur Schlummerstadt. Und du hältst den Betrieb auf. Also, einsteigen oder zur Seite treten!“ Das innere Licht der Murmel pulsierte etwas heller.
Leo blinzelte. Ein sprechender, leuchtender Murmel-Kurier? Das war ja noch besser als eine letzte Runde Murmeln!
„Einsteigen? Aber… wie?“, stammelte Leo.
„Stell dich einfach vor mich auf die Bahn und wünsch dir, klein genug für die Fahrt zu sein. Aber zackig, der Fahrplan wartet nicht!“, brummte Klicker.
Leo zögerte nur einen Moment. Dann stellte er sich auf die Holzrinne der Murmelbahn, direkt vor Klicker. Er schloss die Augen und dachte ganz fest: „Ich will mitfahren! Ich will klein sein!“
Ein warmes Kribbeln durchzog ihn, wie Brausepulver unter der Haut. Als er die Augen wieder öffnete, war alles riesig! Sein Bett sah aus wie eine Gebirgslandschaft aus Kissen und Decken, die Beine seines Schreibtischs wie Baumstämme.
Und er selbst? Er war nicht größer als sein eigener Daumen. Er stand immer noch auf der Murmelbahn, aber jetzt wirkte sie wie eine breite Autobahn.
Klicker rollte dicht hinter ihn. „Na also, geht doch. Festhalten!“
Leo packte schnell die Ränder der Holzbahn, als Klicker ihn sanft anstupste und sie gemeinsam losrollten.
Aber es war keine normale Murmelfahrt. Die Bahn schien sich zu verändern. Die Holzschienen leuchteten nun im gleichen sanften Licht wie Klicker. Das Klackern der Murmel klang tiefer, fast wie das Tuckern einer kleinen Lokomotive.
Sie sausten durch einen Tunnel aus aufgeschlagenen Buchseiten, über eine Brücke aus Buntstiften und durch eine Kurve, die plötzlich unter dem Türspalt hindurch in den dunklen Flur führte.
„Wo fahren wir hin?“, rief Leo gegen den Fahrtwind, der erstaunlich stark war für eine Murmelbahn.
„Zur Schlummerstadt! Hab ich doch gesagt!“, knarzte Klicker. „Da, wo die Träume für die Nacht verladen werden. Mein Job ist es, sie pünktlich abzuliefern.“
Der Flur verwandelte sich. Der Teppich wurde zu einem wogenden, roten Meer. Staubmäuse huschten wie seltsame Tiefseekreaturen vorbei. Schatten an der Wand tanzten und formten fantastische Gebilde.
Sie rollten eine Rampe hinauf, die aus einem Stapel gefalteter Wäsche bestand, und landeten sanft auf etwas Weichem.
„Endstation. Schlummerstadt. Alles aussteigen“, verkündete Klicker und hörte auf zu leuchten.
Leo schaute sich um. Sie waren in einer Stadt gelandet, die komplett aus Kissen, Decken, alten Pullovern und weichen Stofftieren gebaut war. Kleine Laternen aus Milchglas-Lampenschirmen spendeten ein dämmriges Licht.
Überall wuselten seltsame kleine Wesen herum. Manche sahen aus wie wandelnde Kopfkissen mit kurzen Beinen, andere wie flauschige Wollknäuel mit schläfrigen Augen. Sie murmelten leise und trugen durchsichtige Seifenblasen mit sich herum, in denen bunte Bilder schwirrten.
„Das sind die Gähn-Wichte und die Kissen-Knirpse“, erklärte Klicker, der neben Leo zur Ruhe gekommen war. „Sie sortieren die Träume.“
Ein besonders verschlafen aussehender Gähn-Wicht mit einer Zipfelmütze aus einem alten Waschlappen stolperte auf sie zu. Er trug eine riesige Seifenblase, in der ein Bild von fliegenden Spaghettimonstern war.
„Oh, Klicker, gut, dass du da bist!“, gähnte der Wicht so herzhaft, dass seine Mütze wackelte. „Dieser Traum hier ist besonders kitzlig. Ich krieg ihn nicht in die Transportkapsel.“
Klicker seufzte. „Immer diese Sonderwünsche. Na los, zeig her.“
Leo beobachtete fasziniert, wie Klicker sich wieder leicht erhitzte und der Gähn-Wicht versuchte, die Traumblase vorsichtig in Klickers Inneres zu schieben. Aber die Spaghettimonster zappelten zu sehr.
„Kann ich helfen?“, fragte Leo.
Der Gähn-Wicht blinzelte ihn an. „Ein Wachling? Hier? Seltsam. Aber jede Hilfe ist willkommen.“
Leo überlegte. „Vielleicht müssen wir die Spaghettimonster beruhigen. Sing ihnen doch ein Schlaflied vor!“
Der Gähn-Wicht sah ihn verdutzt an, dann Klicker. Klicker zuckte nur mit seiner inneren Leuchtkraft.
Also begann der Gähn-Wicht mit einer unglaublich tiefen, gähnenden Stimme ein Schlaflied zu summen. Und tatsächlich! Die Spaghettimonster in der Blase hörten auf zu zappeln und rollten sich gemütlich zusammen.
„Geschafft!“, rief der Gähn-Wicht und schob die Traumblase mühelos in Klicker.
Klickers Licht wurde kurz ganz hell, dann normalisierte es sich wieder. „Na endlich. Einsteigen, Wachling. Zeit für die Rückfahrt. Der Traum muss ausgeliefert werden.“
Leo verabschiedete sich schnell von dem Gähn-Wicht, der ihm dankbar zuwinkte.
Wieder hielt er sich fest, als Klicker losrollte. Die Rückfahrt ging viel schneller, als hätte Klicker es eilig, seine Fracht loszuwerden.
Sie sausten durch den verwandelten Flur, zurück durch den Türspalt, über die Buntstiftbrücke und durch den Buchseitentunnel.
Als sie wieder in Leos Zimmer ankamen, spürte er das vertraute Kribbeln. Er schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, lag er in seinem Bett. Die Murmelbahn sah wieder ganz normal aus. Oben am Start lag die große, besondere Murmel. Aber sie leuchtete nicht mehr und fühlte sich kühl an.
War das alles nur ein Traum gewesen?
Leo kuschelte sich in sein Kissen. Vielleicht. Aber als er einschlief, träumte er von einer lustigen Reise mit einem knarzigen Murmel-Kurier und fliegenden Spaghettimonstern.
Und er konnte es kaum erwarten, am nächsten Abend wieder auf die Murmelbahn zu starren.