
Ein neugieriger Schnürsenkel namens Schnüri entwischt nachts aus Leos Schuh und erlebt ein geheimes Abenteuer im Haus. Eine Gute-Nacht-Geschichte.
Leo gähnte einen riesigen Gähner, so groß, dass sein kleiner roter Schnürsenkel Schnüri im Schuh daneben fast mitgerissen wurde.
„Gute Nacht, meine treuen Schuhe“, murmelte Leo und stellte seine Turnschuhe ordentlich neben das Bett. Einer rechts, einer links. In dem linken Schuh, da wohnte Schnüri.
Schnüri war ein ganz normaler roter Schnürsenkel. Na ja, fast. Tief in seinen roten Fäden war Schnüri ein bisschen… gelangweilt.
Jeden Tag das Gleiche: Morgens wurde er aus dem Dunkel des Schuhs gezogen, dann zack, zack, links über rechts, durch die Schlaufe, festziehen. Ein Knoten. Den ganzen Tag hielt er Leos Schuh am Fuß, beim Rennen, Springen, Schleichen.
Abends dann: Lockerung, Dunkelheit, Warten.
„Immer nur Knoten“, seufzte Schnüri leise in die Schuhspitze hinein, als Leos Atemzüge tief und regelmäßig wurden. „Ich will auch mal was erleben! Die Welt sehen! Ohne Knoten!“
Ein kühner Gedanke blitzte in Schnüris Plastikspitze auf. Was, wenn…?
Es begann ganz vorsichtig. Ein kleines Wackeln. Ein leichtes Ziehen an der eigenen Schlaufe. Es war gar nicht so einfach, sich selbst zu entknoten, wenn man der Knoten war.
Schnüri zappelte und wand sich. Es kitzelte ein bisschen. Linksrum, rechtsrum. Plötzlich… Schwupps! Die Schleife gab nach. Die beiden Enden fielen schlaff herab.
Freiheit!
Schnüri kicherte leise. Es fühlte sich wunderbar leicht an, so ganz ohne Spannung.
Langsam, wie eine kleine rote Schlange, glitt Schnüri über den Rand des Schuhs und ließ sich auf den weichen Teppich fallen.
Uff! Das war weich. Und riesig!
Der Teppich war wie ein endloser, flauschiger Dschungel in der Dunkelheit. Die Beine von Leos Bett ragten auf wie riesige Bäume.
Und da! Was war das? Große, graue, flauschige Kugeln rollten langsam durch die Schatten. Sie sahen ein bisschen aus wie verschlafene Schafe.
„Hallo?“, flüsterte Schnüri mutig. Die Staubmäuse (denn das waren sie) antworteten nicht. Sie rollten nur gemütlich weiter, als hätten sie alle Zeit der Welt.
Schnüri schlängelte weiter. „Schlängel-schlängel“, machte es auf dem Teppich.
Es erreichte die Türschwelle. Dahinter war der Flur. Der Boden hier war kälter und glatt. Schnüri rutschte ein bisschen, aber es machte Spaß.
Ein schwacher, leckerer Geruch zog durch die Luft. Er kam aus der Küche.
Neugierig folgte Schnüri dem Duft. Schlängel-schlängel über die kühlen Fliesen.
In der Küche war es noch dunkler, nur der Mond schien durch das Fenster und malte silberne Flecken auf den Boden.
Da lag etwas Kleines, Krümeliges am Boden. Es roch nach Keks.
„Hallo, Keks-Krümel?“, fragte Schnüri. Der Krümel blieb still. Wahrscheinlich war er sehr müde vom Tag.
Schnüri blickte nach oben. Das Tischbein! Es sah aus wie ein riesiger Baumstamm. Ob man da hochklettern konnte?
Schnüri versuchte es. Es wickelte sich um das Bein und zog sich langsam hoch. Zentimeter für Zentimeter. Puh, das war anstrengend!
Oben auf dem Tisch war es wie eine neue Welt. Glatt und weit. Eine einsame Tasse stand da wie ein runder Turm.
Schnüri rutschte wieder nach unten. Abenteuer machen hungrig, aber Kekskrümel waren wohl doch nichts für Schnürsenkel.
Weiter ging die Reise ins Wohnzimmer.
Hier war es geheimnisvoll. Die Sofakissen türmten sich auf wie weiche Berge. Auf einem davon lag ein seltsames, schwarzes Rechteck mit vielen kleinen Knöpfen.
„Du bist sicher der Wächter des Sofas“, dachte Schnüri ehrfürchtig. „Ich werde dich nicht stören.“ Es berührte keinen der Knöpfe der Fernbedienung.
Schnüri wollte unter den Sessel kriechen, um zu sehen, was dort verborgen war.
Doch da passierte es! Es wurde plötzlich festgehalten. Ein anderes Band, ein grauer Wollfaden von Omas Strickzeug, hatte sich um Schnüri geschlungen.
Ein Knoten! Aber diesmal war es kein gemütlicher Schuhknoten. Dieser hier war fest und gemein!
Schnüri zog und zerrte. Nichts! Es bekam ein bisschen Angst. Hier im Dunkeln, ganz allein und verknotet.
„Hilfe!“, piepste es leise. Aber nur die Stille antwortete.
Schnüri atmete tief durch (oder tat so, als ob, Schnürsenkel atmen ja nicht wirklich). Es erinnerte sich an Leo. Wie er manchmal geduldig Knoten löste. Nicht ziehen, sondern… lockern. Verstehen, wie der Knoten funktioniert.
Langsam, ganz vorsichtig, schob Schnüri seine Spitze durch eine kleine Lücke im Wollfaden. Es drückte hier, lockerte da. Und… ja! Es funktionierte! Der Knoten löste sich.
Frei! Schon wieder!
Puh. Das war knapp. Schnüri lag einen Moment ganz still da.
Die Abenteuer waren aufregend. Aber jetzt, so allein im großen, dunklen Haus, fühlte es sich doch ein wenig… einsam an.
Und irgendwie… nackt. So ganz ohne Schuh drumherum.
Im Schuh bei Leo war es warm und sicher. Und es war doch eigentlich ganz schön, Leos Fuß festzuhalten, wenn er rannte und sprang. Das war auch eine wichtige Aufgabe.
„Vielleicht ist ein Knoten doch nicht das Schlechteste“, dachte Schnüri. „Besonders ein Knoten, der einen Zweck hat.“
Langsam machte sich Schnüri auf den Rückweg. Schlängel-schlängel über den kühlen Flur, vorbei an der Küchentür.
Zurück im Zimmer, durch den flauschigen Teppichdschungel, vorbei an den immer noch gemütlich rollenden Staubmäusen.
Das Bett von Leo war jetzt ein sicherer Leuchtturm in der Dunkelheit.
Mit letzter Kraft kletterte Schnüri am Schuh hoch und rutschte hinein. Es kuschelte sich an die weiche Innensohle. Ah, wie gemütlich.
Gerade rechtzeitig. Draußen vor dem Fenster wurde der Himmel langsam heller.
Ein paar Stunden später reckte und streckte sich Leo. Gähnen. Aufstehen.
Er griff nach seinen roten Turnschuhen. Zog den linken an. Nahm die beiden Enden von Schnüri.
Links über rechts. Durch die Schlaufe ziehen. Festzurren.
Klick. Der Knoten saß perfekt.
Leo bemerkte nichts. Für ihn war Schnüri einfach nur sein roter Schnürsenkel.
Aber Schnüri lächelte innerlich. Es war wieder ein Knoten. Aber es war jetzt auch ein Abenteurer. Ein Schnürsenkel mit einem großen, kleinen Geheimnis aus der Nacht.
Und das fühlte sich richtig gut an.