
Ein neugieriger Grashalm namens Gustav versucht, das geheimnisvolle Schlaflied des Windes zu lernen und entdeckt dabei ein wunderbares Geheimnis.
Gustav war ein Grashalm. Kein besonders großer, kein besonders grüner, einfach Gustav.
Er stand mitten auf einer riesigen Wiese, zusammen mit tausend anderen Grashalmen, die aussahen wie er.
Aber Gustav hatte ein Geheimnis, ein Kribbeln in seiner obersten Spitze, das die anderen vielleicht nicht hatten.
Er lauschte.
Nicht nur dem Summen der Bienen oder dem Zirpen der Grillen.
Nein, Gustav lauschte dem Wind.
Besonders abends, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwand und die Wiese in ein sanftes Dämmerlicht tauchte, wurde der Wind anders.
Er sang.
Ein leises, flüsterndes, manchmal pfeifendes Lied, das Gustav tief in seinem Inneren berührte.
Es klang wie ein Schlaflied, das die ganze Welt in den Schlaf wiegte.
„Ich will dieses Lied lernen“, beschloss Gustav eines Abends, als der Wind besonders melodiös durch seine Halme strich.
„Ich will wissen, was der Wind singt.“
Aber wie fragt man den Wind nach seinem Lied?
Er ist ja nicht einfach da wie Bertold Käfer, der immer über die gleichen Erdklumpen stolperte.
Gustav reckte sich so hoch er konnte.
„Hallo Wind?“, rief er leise, aber der Wind rauschte nur weiter.
Er versuchte es lauter.
„HE! WIND! KANNST DU MIR DEIN LIED BEIBRINGEN?“
Ein Gänseblümchen neben ihm wackelte erschrocken mit dem Kopf.
„Pst! Nicht so laut! Du verscheuchst ja die Tautropfen für morgen früh!“
Gustav wurde ein bisschen rot, was bei Grashalmen bedeutet, dass sie leicht ins Gelbliche kippen.
„Entschuldigung“, murmelte er.
Am nächsten Tag begann Gustav seine Nachforschungen.
Zuerst fragte er eine Ameise, die geschäftig einen riesigen Krümel vorbeischleppte.
„Entschuldigen Sie, Frau Ameise, wissen Sie vielleicht, wie das Lied des Windes geht?“
Die Ameise hielt kurz inne, wackelte mit den Fühlern und sagte nur: „Keine Zeit für Lieder! Arbeit, Arbeit!“ Und krabbelte weiter.
Dann sah Gustav Bertold Käfer, der gerade versuchte, einen kleinen Stein zu erklimmen.
„Herr Käfer! Sie sind doch viel in der Welt herumgekommen. Kennen Sie das Schlaflied des Windes?“
Bertold Käfer schnaufte und blickte mürrisch auf.
„Wind? Pah! Immer dieser Wind! Pustet mir den Sand in die Augen und wirft meine mühsam gesammelten Körnchen durcheinander! Ein Lied? Eher ein Ärgernis!“
Er rutschte vom Stein ab und landete auf dem Rücken, wo er hilflos mit den Beinchen zappelte.
Gustav half ihm mit einem sanften Schubs wieder auf die Füße.
„Danke“, brummte der Käfer. „Aber vom Wind versteh ich nichts. Frag doch die alte Pusteblume da drüben. Die steht schon ewig hier und lässt sich vom Wind durchpusten.“
Das war eine gute Idee.
Gustav wiegte sich hinüber zur Pusteblume, deren weiße Schirmchen schon ganz flauschig aussahen.
„Frau Pusteblume?“, fragte Gustav ehrfürchtig.
„Sie kennen doch den Wind so gut. Können Sie mir sein Schlaflied beibringen?“
Die Pusteblume raschelte leise.
„Der Wind singt nicht nur ein Lied, kleiner Grashalm“, flüsterte sie mit einer Stimme wie trockenes Laub.
„Er erzählt Geschichten. Von fernen Bergen, vom weiten Meer, von den Wolken hoch oben.“
Gustav lauschte gespannt.
„Aber wie kann ich es lernen?“
„Du musst mit deinem ganzen Wesen lauschen“, sagte die Pusteblume.
„Nicht nur mit den Ohren, die du nicht hast. Lausche mit deiner Biegung, mit deinem Rascheln, mit deinem Stillstehen.“
Mit seinem ganzen Wesen lauschen? Das klang kompliziert.
Gustav bedankte sich und zog sich etwas verwirrt zurück.
Er versuchte es.
Er schloss die Augen (was bei Grashalmen bedeutet, dass sie aufhören, das Licht zu sehen) und konzentrierte sich.
Er versuchte, sich genau so zu biegen, wie der Wind es wollte.
Mal sanft nach links, mal zitternd nach rechts.
Er versuchte, das Geräusch nachzuahmen, das er machte, wenn der Wind durch ihn hindurchfuhr.
Ein leises „Sssssch“.
Er sah einen Tautropfen auf einem seiner Blätter glitzern.
„Vielleicht ist das wie ein Mikrofon?“, dachte Gustav.
Er neigte sich so, dass der Tautropfen direkt im Wind hing.
Er lauschte angestrengt, aber er hörte nur das normale Rauschen.
Dann versuchte er, den Wind einzufangen.
Er sah ein großes, trockenes Blatt, das auf der Wiese lag.
Mit viel Mühe schob er sich darunter und drückte es fest auf den Boden.
„Ha! Jetzt hab ich dich!“, dachte er triumphierend.
Aber im nächsten Moment kam eine stärkere Böe, hob das Blatt an und wirbelte es lachend davon.
Gustav seufzte.
Es war schwieriger als gedacht.
Die Sonne ging langsam unter, und die Wiese wurde stiller.
Die Bienen waren in ihren Stock zurückgekehrt, die Vögel sangen ihre letzten Lieder.
Nur der Wind war noch da, jetzt wieder sanfter, melodiöser.
Gustav gab das Probieren auf.
Er stand einfach nur da, müde von seinen vergeblichen Versuchen.
Er hörte das leise Rascheln seiner Nachbarn.
Er hörte, wie der Wind durch die Blätter der alten Eiche am Rande der Wiese strich.
Er hörte das ferne Plätschern des Baches.
Er hörte das kaum wahrnehmbare Summen einer späten Hummel.
Und er hörte den Wind, wie er all diese Geräusche miteinander verband, wie er sie trug, mal lauter, mal leiser machte.
Es war kein einzelnes Lied.
Es war alles zusammen.
Das Atmen der Wiese.
Das Flüstern der Nacht.
Das war das Schlaflied des Windes.
Die Pusteblume hatte recht gehabt.
Man musste mit dem ganzen Wesen lauschen.
Gustav spürte, wie er ein Teil dieses Liedes war.
Sein eigenes sanftes Schwanken, sein leises Rascheln gehörte dazu.
Er musste das Lied nicht lernen, er war schon immer darin.
Ein tiefes Gefühl der Ruhe durchströmte den kleinen Grashalm.
Er musste den Wind nicht verstehen oder einfangen.
Er musste ihm nur zuhören und sich von ihm wiegen lassen.
Langsam, ganz langsam, während der Mond über die Hügel kletterte und die Sterne aufblitzten, schloss Gustav wieder seine Augen.
Er lauschte dem großen Schlaflied der Welt, das der Wind für ihn und alle anderen sang.
Und während er sanft hin und her schwankte, summte er leise mit.
„Sssssch…“
Dann schlief Gustav Grashalm ein, mitten im schönsten Konzert, das er je gehört hatte.