
Heizungsrohr Hektor lauscht Gutenachtgeschichten und träumt sich neugierig und glucksend ins fantastische Murmelland. Eine warmherzige Geschichte.
Hektor war kein gewöhnliches Heizungsrohr.
Natürlich, er war lang und aus Metall und wurde warm, wenn draußen der Wind pfiff und die Eiszapfen an den Fenstern hingen. Aber Hektor hatte Ohren, sozusagen.
Er steckte tief in der Wand von Leons Zimmer, direkt neben dem Bett, und hörte jeden Abend die Geschichten, die Leons Papa erzählte.
Und Hektor lauschte aufmerksam. Gluck, gluck.
Er liebte die Geschichten von Rittern, Drachen und fernen Planeten. Aber am allermeisten liebte er die Geschichten vom Murmelland.
„Im Murmelland“, erzählte Leons Papa mit warmer Stimme, „leben die Murmelmurmeltiere. Sie rollen morgens aus ihren Höhlen, nicht wie andere Tiere, nein, sie kullern richtig!“
Hektor stellte sich das vor. Kleine, flauschige Kugeln, die lachend die Hügel hinunterpurzeln. Gluckser.
„Und sie bauen Rutschbahnen aus Moos und trinken Tau aus Blütenkelchen“, fuhr Papa fort.
Leon kicherte unter seiner Decke. Hektor gluckste leise in der Wand mit.
Seit er diese Geschichten hörte, fragte sich Hektor: Wie kommt man eigentlich ins Murmelland? Und wie sieht es da genau aus?
Eines Nachts, als Leon schon lange schlief und nur der Mond durchs Fenster schien, beschloss Hektor, seine Nachbarn zu fragen.
Er schickte ein leises Klopfgeräusch durch seine Rohre. Klock… klock… klock.
Ein Knarren antwortete ihm von unten. Das war Knarrbert Dielenbrett, eine sehr alte und manchmal etwas mürrische Holzdiele unter Leons Teppich.
„Wer stört die Nachtruhe?“, knarzte es.
„Ich bin’s, Hektor“, gluckste das Rohr. „Knarrbert, weißt du, wie man ins Murmelland kommt?“
Knarrbert knarrte nachdenklich. „Murmelland? Nie gehört. Ist das da, wo die Staubmäuse Walzer tanzen? Ich sehe die manchmal unter dem Bett üben. Sehr unbegabt, sag ich dir.“
Hektor seufzte leise, was wie ein sanftes Rauschen klang. „Nein, ich meine das Land mit den Murmelmurmeltieren.“
„Ach, die!“, knarzte Knarrbert. „Pass auf, Hektor. Das ist bestimmt ein gefährlicher Ort. Überall Löcher im Boden! Man tritt rein und – knack! – schon ist man durchgebrochen. Bleib lieber, wo du bist. Hier ist es sicher. Und trocken. Meistens.“
Das klang nicht sehr einladend. Hektor dankte Knarrbert und versuchte es woanders.
Er schickte ein zartes Vibrieren nach oben, in die Ecke, wo Agathe Spinne wohnte. Agathe war sehr weise, denn sie sah viel von der Welt durch ihr feines Netz.
Ein leises Rascheln antwortete. „Hektor, mein lieber Wärmespender? Was beschäftigt dich zur Geisterstunde?“
„Agathe“, flüsterte Hektor durch die Wand, „weißt du etwas über das Murmelland?“
Agathe schwieg einen Moment. Ihre dünnen Beinchen zitterten kaum merklich. „Murmelland… ja… ein Ort des Überflusses, wie ich hörte. Dort sollen die Regentropfen wie warmer Kakao schmecken und die Grashalme nach Zuckerwatte duften.“
Hektor wurde ganz warm ums Rohrherz. „Wirklich? Und die Murmelmurmeltiere?“
„Oh, die sind sehr vornehm“, säuselte Agathe. „Sie tragen winzige Zylinderhüte aus Tautropfen und polieren ihre Murmelpfoten jeden Morgen mit Sonnenstrahlen. Aber sie mögen keine Heizungsrohre, glaube ich. Zu… metallisch.“
Das war ja noch verwirrender! Ein gefährlicher Ort mit Löchern oder ein zuckersüßes Land mit eitlen Murmeltieren?
Hektor grübelte. Gluck, gluck, grübel.
Er konnte ja nicht einfach losgehen. Er steckte fest in der Wand. Aber vielleicht… vielleicht konnte er träumen?
Er schloss seine inneren Rohraugen und konzentrierte sich ganz fest auf das Murmelland.
Er stellte sich vor, wie er selbst, ein glänzendes Heizungsrohr, sanft über moosige Hügel rollte. Gluck-roll, gluck-roll.
Er sah Murmelmurmeltiere, die aussahen wie flauschige Honigmelonen mit Beinen. Sie lachten und winkten ihm zu.
Eines rollte auf ihn zu und bot ihm einen Blütenkelch an. Hektor nahm einen imaginären Schluck. Schmeckte es nach Kakao? Nein, eher nach… warmem Wasser. Das war ja auch nicht schlecht.
Er sah die Moosrutschbahnen. Sie waren viel zu klein für ihn, aber er stellte sich vor, wie er ganz vorsichtig seinen untersten Rohrabschnitt darauf setzte und ein kleines Stück rutschte. Wuuusch-gluck!
Ein anderes Murmeltier, das einen winzigen Hut aus einem Gänseblümchen trug, fragte ihn: „Sind Sie der berühmte Hektor Heizungsrohr aus Leons Zimmer?“
Hektor gluckste stolz. „Ja, der bin ich!“
„Wir haben schon von Ihren warmen Geschichten gehört!“, piepste das Murmeltier. „Wollen Sie uns erzählen, wie es ist, wenn der Schnee fällt?“
Und so saß Hektor in seinem Traum, mitten im Murmelland, umringt von neugierigen Murmelmurmeltieren, und erzählte. Er erzählte vom leisen Rieseln der Flocken, vom kalten Wind, der ums Haus pfiff, und davon, wie gemütlich es in Leons Zimmer wurde, wenn er, Hektor, seine Arbeit tat und alles wohlig wärmte.
Die Murmelmurmeltiere lauschten mit großen Augen. Sie hatten noch nie Schnee gesehen, denn im Murmelland war es immer frühlingshaft warm.
Als Hektor langsam aus seinem Traum erwachte, hörte er schon die Vögel draußen zwitschern. Leon räkelte sich in seinem Bett.
Ein neuer Tag begann.
Hektor fühlte sich wunderbar ausgeruht und zufrieden. Er musste nicht wirklich ins Murmelland reisen. Er hatte es ja in seinen Träumen besucht.
Und vielleicht war das Murmelland gar kein fester Ort. Vielleicht war es überall dort, wo man sich geborgen fühlte und schöne Geschichten hörte.
So wie hier, in Leons Zimmer, tief in der Wand.
Als Leon aufstand und barfuß über Knarrbert Dielenbrett lief (der leise knarzte: „Vorsicht, Junge!“), spürte Hektor, wie das warme Wasser wieder durch ihn floss.
Er war bereit, das Zimmer zu wärmen.
Und er freute sich schon auf den Abend. Auf Leons Papa. Und auf die nächste Geschichte.
Vielleicht wieder eine vom Murmelland?
Gluck, gluck. Das wäre schön.