
Der neugierige Regenwurm Herr Kringel erkundet die Nacht, hält den Mond für Käse und versucht, mit Kreide Farbe ins Dunkel zu malen.
Tief unter Frau Gartenschöns preisgekrönten Karottenbeeten, wo die Erde dunkel und gemütlich war, lebte ein Regenwurm namens Herr Kringel.
Herr Kringel war kein gewöhnlicher Regenwurm.
Sicher, er liebte das Knabbern an saftigen Wurzeln und das Graben von Tunneln wie alle anderen auch.
Aber Herr Kringel hatte einen Kopf voller Fragen, die viel weiter reichten als das Ende seines Tunnels.
Er hörte oft gedämpfte Geräusche von oben.
Ein Rascheln, ein Huschen, manchmal ein tiefes „Huu-huu“.
„Was passiert da oben, wenn die Sonne schlafen geht?“, fragte er seine Wurm-Brüder und -Schwestern beim abendlichen Wurzelknabbern.
„Ach, Kringel“, brummte sein ältester Bruder, „da oben ist es dunkel und kühl. Nichts für anständige Regenwürmer. Schlaf lieber.“
Aber Herr Kringel konnte nicht schlafen.
Die Neugier kitzelte ihn mehr als der trockenste Erdkrümel.
Eines Abends, nachdem er eine besonders scharfe kleine Radieschenwurzel verputzt hatte, die ihm Mut verlieh (oder vielleicht war es auch nur Sodbrennen), fasste Herr Kringel einen Entschluss.
„Heute Nacht“, murmelte er zu sich selbst, „heute Nacht schaue ich nach.“
Er verabschiedete sich von seiner bereits dösenden Familie und begann, sich vorsichtig nach oben zu winden.
Langsam, Zentimeter um Zentimeter, schob er seinen Kopf durch die lockere Erde.
Plopp!
Sein Kopf war draußen.
Die Welt war… riesig!
Und dunkel!
Viel dunkler als seine gemütlichen Tunnel.
Die Luft war kühl und roch anders – nach feuchtem Gras und etwas Blumigem, das er nicht kannte.
Er blinzelte. Seine Augen waren an das Dunkel unter der Erde gewöhnt.
Plötzlich raschelte es im Gras neben ihm.
Herr Kringel zuckte zusammen.
Ein stacheliges Etwas schnüffelte lautstark am Boden entlang.
„Entschuldigen Sie bitte“, piepste Herr Kringel.
Das stachelige Etwas hielt inne und blickte ihn aus kleinen, wachsamen Augen an.
„Wer stört mich bei der Schneckensuche?“, brummte eine tiefe Stimme. Es war Herr Borstel, der Igel.
„Ich bin Herr Kringel. Ich wollte nur fragen… was ist das hier? Die Nacht?“
Herr Borstel schnaubte.
„Natürlich ist das die Nacht, du Regenwurm. Zeit für anständige Jäger, Futter zu suchen. Und Zeit für kleine Würmer, unter der Erde zu bleiben, wenn sie nicht selbst zu Futter werden wollen.“
Mit einem weiteren Schnauben trollte sich Herr Borstel davon.
Herr Kringel schluckte.
Vielleicht hatten seine Brüder doch recht.
Aber dann sah er nach oben.
Da hing etwas Großes, Rundes und Leuchtendes am Himmel.
Es war blass und silbern und sah aus wie… ja, wie ein riesiger Käselaib!
„Ein Käserad!“, flüsterte Herr Kringel ehrfürchtig. „Ob es wohl schmeckt? Und wer hat es da oben hingehängt?“
Er starrte den Mond an, bis sein Nacken steif wurde.
Dann bemerkte er ein Flattern in der Nähe der Gartenlampe, die Frau Gartenschön immer brennen ließ.
Kleine, zarte Wesen tanzten im Lichtkegel.
Sie hatten Flügel wie Blütenblätter und schienen die Lampe küssen zu wollen.
„Fliegende Blumen!“, dachte Herr Kringel begeistert. „Sie versuchen bestimmt, die kleine Nachtsonne zu begrüßen!“
Er robbte näher heran.
„Hallo, fliegende Blumen!“, rief er. „Ist die Nachtsonne warm?“
Aber die Motten beachteten ihn nicht. Sie flatterten weiter, gefangen im Licht.
Herr Kringel seufzte.
Er schaute sich um.
Im Mondlicht glitzerten Tautropfen auf Spinnweben wie Perlenketten.
Lange, dunkle Schatten zogen sich über den Rasen.
Es war schön, ja.
Aber irgendwie auch… ein bisschen eintönig.
So viel Dunkelblau und Silber.
„Tagsüber ist alles so bunt“, dachte Herr Kringel. „Die roten Radieschenblätter, die orangen Karotten, die gelben Sonnenblumen.“
Er wünschte sich, er könnte der Nacht ein paar Farben geben.
Da erinnerte er sich an etwas.
Er hatte Frau Gartenschön manchmal dabei beobachtet, wie sie mit einem weißen Stein Linien auf die dunkle Erde zog, bevor sie säte.
Sein Blick fiel auf etwas Helles neben dem Geräteschuppen.
Er kroch hinüber.
Es war ein abgebrochenes Stück weiße Kreide!
„Ha!“, dachte Herr Kringel aufgeregt. „Damit kann ich der Nacht Streifen malen!“
Er stemmte seinen Kopf gegen die Kreide und schob sie über eine dunkle Steinplatte.
Es war anstrengend, aber hinter ihm blieb eine wackelige, weiße Linie zurück.
„Ich male!“, keuchte er stolz. „Ich male Streifen auf die Nacht!“
Er versuchte, eine Blume zu zeichnen, aber es wurde eher ein Kringel, der aussah wie ein verwirrter Regenwurm.
Er kicherte.
„Huu-huu.“
Ein leises Geräusch ließ ihn erstarren.
Große, runde Augen blickten ihn aus dem Dunkel eines Apfelbaums an.
Eine Eule war lautlos auf einem Ast gelandet.
Es war Frau Eulemann, die weiseste Jägerin der Nacht.
„Guten Abend, kleiner Wurm“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Was treibst du denn hier auf den kalten Steinen?“
Herr Kringel zitterte ein wenig, aber die Stimme der Eule klang freundlich.
„Ich… ich male Streifen auf die Nacht“, erklärte er und zeigte mit seinem Kopf auf die weiße Linie. „Finden Sie nicht auch, dass sie ein bisschen Farbe gebrauchen könnte?“
Frau Eulemann neigte ihren Kopf und ihre Augen schienen im Dunkeln zu lächeln.
„Oh, kleiner Kringel“, sagte sie leise. „Die Nacht braucht deine Kreide nicht, um schön zu sein. Sie hat ihre eigenen Farben.“
„Eigene Farben?“, fragte Herr Kringel verwirrt.
„Sieh doch“, sagte Frau Eulemann. „Sieh das tiefe Samtblau des Himmels, so dunkel, dass die Sterne wie Diamanten funkeln.“
Herr Kringel schaute nach oben. Er sah das tiefe Blau und die winzigen, glitzernden Punkte.
„Sieh das Silber des Mondes, das alles in ein geheimnisvolles Licht taucht und die Schatten tanzen lässt.“
Herr Kringel sah die langen Schatten und das blasse Licht, das die Grashalme silbern schimmern ließ.
„Hör das leise Rascheln im Laub, das Flüstern des Windes in den Blättern. Das ist die Musik der Nacht.“
Herr Kringel lauschte. Er hörte das Rascheln und das Säuseln des Windes.
„Deine Kreidelinie ist ein hübscher Versuch“, sagte Frau Eulemann freundlich, „aber der Morgentau wird sie wegwaschen. Die Schönheit der Nacht ist flüchtig und leise. Man muss nur lernen, sie zu sehen und zu hören.“
Herr Kringel schaute sich noch einmal um.
Plötzlich sah er die Nacht mit anderen Augen.
Das Dunkel war nicht leer, es war voller Geheimnisse.
Das Silber war nicht eintönig, es war magisch.
Die Stille war nicht still, sie war voller leiser Geräusche.
Er fühlte sich plötzlich sehr müde von seinem Abenteuer.
„Danke, Frau Eulemann“, murmelte er. „Ich glaube, ich verstehe.“
Er verneigte sich, so gut es ein Regenwurm eben kann, und machte sich auf den Rückweg zu seinem gemütlichen Tunnel unter den Karotten.
Die kühle Erde fühlte sich gut an.
Als er wieder bei seiner Familie war, schliefen alle tief und fest.
Er kuschelte sich zwischen seine Brüder und erzählte leise von dem riesigen Käserad am Himmel, den fliegenden Blumen und seinem Versuch, die Nacht anzumalen.
Ein Bruder murmelte im Schlaf: „Du und deine verrückten Träume, Kringel.“
Aber Herr Kringel lächelte.
Es war kein Traum gewesen.
Und er wusste jetzt: Die Nacht brauchte keine Kreidestreifen.
Sie war wunderschön, genau so, wie sie war.
Mit diesem Gedanken schlief Herr Kringel ein und träumte vom sanften Schein des Mondes und dem Flüstern des Nachtwindes.