Leopold Löffel lauscht dem Lied der leeren Tasse

Leopold Löffel lauscht dem Lied der leeren Tasse

Der neugierige Löffel Leopold entdeckt das nächtliche Geheimnis der Küche: Ein leises Lied, gesungen von leeren Tassen. Eine humorvolle Geschichte.

Leopold Löffel war kein gewöhnlicher Löffel.

Er war ein kleiner Teelöffel, ein bisschen verbogen an einer Seite, weil er einmal versehentlich als Schraubenzieher benutzt worden war, aber das störte ihn nicht.

Was Leopold wirklich ausmachte, war seine unendliche Neugier.

Er lebte mit vielen anderen Besteckteilen in einer großen, dunklen Schublade.

Tagsüber war es dort oft laut und rüttelig, wenn die Menschenhände nach Gabeln, Messern oder eben Löffeln griffen.

Aber nachts, wenn das Haus still wurde und nur der Kühlschrank leise brummte, wurde es in der Schublade ganz ruhig.

Zu ruhig für Leopold.

In dieser Nacht konnte Leopold mal wieder nicht schlafen.

Er lag zwischen einer müden Gabel namens Gisela und einem schlafenden Buttermesser, das leise schnarchte (ein Geräusch wie feines Sandpapier auf Holz).

„Psst!“, flüsterte Leopold. „Hört ihr das?“

Gisela Gabel öffnete ein Zinken-Auge. „Was denn? Das Schnarchen von Bert Buttermesser? Das ist doch nichts Neues.“

„Nein, etwas anderes“, wisperte Leopold aufgeregt. „Ein ganz leises Summen. Wie… wie Musik, aber ohne Instrumente.“

Bert Buttermesser murmelte im Schlaf etwas von „Marmelade“ und drehte sich um.

Gisela lauschte angestrengt. „Ich höre nichts außer dem Kühlschrank. Du träumst wohl, kleiner Löffel.“

Aber Leopold war sich sicher. Da war ein Geräusch.

Ein feines, hohes, fast singendes Summen, das von draußen zu kommen schien.

Seine Neugier kitzelte ihn so sehr, dass seine verbogene Seite fast gerade wurde.

„Ich muss nachsehen!“, beschloss er.

Ganz vorsichtig schob er sich an Bert vorbei und rutschte zum Rand der Schublade.

Mit einem kleinen Hopser landete er leise auf dem kühlen Küchenboden.

Uff! Das war aufregender als gedacht.

Die Küche sah nachts ganz anders aus. Riesig und voller Schatten.

Nur ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch das Fenster und malte silberne Muster auf die Fliesen.

Leopold spitzte seine Löffelohren (die hatte er natürlich nicht wirklich, aber er stellte es sich so vor).

Das Summen war jetzt deutlicher. Es kam von der Arbeitsplatte, direkt neben der Spüle.

Er musste da hoch!

Zum Glück stand ein Stuhlbein in der Nähe. Leopold kletterte behände daran hoch, seine kleine Delle half ihm dabei, besseren Halt zu finden.

Oben auf der Arbeitsplatte war die Quelle des Geräuschs nicht mehr zu überhören.

Es kam vom Abtropfgestell.

Dort standen sie: vier leere Tassen und ein kleiner Milchkrug, frisch gespült und zum Trocknen aufgestellt.

Und sie summten!

Ein zarter, vielstimmiger Ton, der auf und ab schwang, mal höher, mal tiefer, wie ein leises Wiegenlied.

Leopold war fasziniert.

Leere Tassen konnten singen?

Plötzlich raschelte es neben ihm. Ein langer, dünner Schatten tauchte auf.

„Na, kleiner Löffel? Kannst wohl auch nicht schlafen?“, fragte eine drahtige Stimme.

Leopold zuckte zusammen. Es war Herr Schneebesen, der alte, weise Quirl, der oft zum Kuchenbacken benutzt wurde und danach stundenlang kopfüber zum Trocknen hing.

„Herr Schneebesen!“, flüsterte Leopold. „Was machen die Tassen da? Singen die?“

Herr Schneebesen lachte leise, ein Geräusch wie viele kleine Glöckchen. „Sozusagen. Das ist das Lied der leeren Tasse.“

„Das Lied der leeren Tasse?“, fragte Leopold staunend.

„Ja“, erklärte Herr Schneebesen. „Wenn eine Tasse leer und sauber ist und die Nacht ganz still, dann fängt sie an, von den Dingen zu träumen, die sie mal enthalten hat. Vom warmen Kakao, vom duftenden Tee, von der süßen Milch.“

Er deutete mit einem seiner Drähte auf die Tassen. „Hör genau hin. Die Blümchentasse summt ein bisschen tiefer, sie träumt vom starken Kaffee. Die Ringeltasse summt heller, sie erinnert sich an Pfefferminztee.“

Leopold lauschte. Tatsächlich! Jede Tasse hatte ihren eigenen, feinen Ton.

Zusammen ergab es diese seltsame, wunderschöne Melodie.

„Und der Milchkrug?“, fragte Leopold.

„Der summt die Basisnote. Immerhin hat er oft den Anfang gemacht“, schmunzelte Herr Schneebesen.

Leopold setzte sich neben den Quirl und hörte einfach nur zu.

Es war so friedlich hier oben, im Mondlicht, mit dem leisen Gesang der leeren Tassen.

Plötzlich hörten sie ein leises Klirren vom Boden.

„Was war das?“, fragte Leopold erschrocken.

Sie spähten über den Rand der Arbeitsplatte.

Dort stand der kleine Salzstreuer, zitternd vor Aufregung.

„Ich… ich habe es auch gehört!“, piepste er. „Ist das… ist das gefährlich?“

Herr Schneebesen seufzte. „Ach, Siggi Salzstreuer. Immer die Nervosität. Nein, das ist nur das Lied der leeren Tasse. Ganz harmlos. Komm ruhig hoch.“

Aber Siggi schüttelte heftig den Kopf, sodass ein paar Salzkörner herausfielen. „Nein, nein! Zu hoch! Und zu… summig!“ Damit huschte er schnell zurück in den dunklen Schrank.

Leopold musste kichern. „Er ist ein bisschen ängstlich, oder?“

„Ein bisschen sehr“, bestätigte Herr Schneebesen. „Aber jeder hat eben seine Eigenarten. Genau wie du deine Neugier hast und die Tassen ihr Lied.“

Sie lauschten weiter dem Summen.

Es war kein lautes Lied, kein Lied zum Mitsingen oder Tanzen.

Es war ein Lied für die Stille, für die Nacht, für das Leise und das Leere.

Langsam wurde Leopold müde. Das Summen wirkte wie ein Schlaflied, viel besser als das Schnarchen von Bert Buttermesser.

„Ich glaube, ich sollte zurück in die Schublade“, murmelte er schläfrig.

„Gute Idee“, sagte Herr Schneebesen. „Die Sonne geht bald auf, dann ist das Konzert vorbei.“

Leopold kletterte vorsichtig das Stuhlbein wieder hinunter.

Er warf noch einen letzten Blick auf die summenden Tassen im fahlen Morgenlicht.

Dann schlüpfte er zurück in die Schublade, die sich jetzt gar nicht mehr so langweilig anfühlte.

Er kuschelte sich neben Gisela Gabel, die immer noch schlief.

Das leise Summen der Tassen war hier unten kaum noch zu hören, aber Leopold wusste jetzt, dass es da war.

Ein kleines, magisches Geheimnis der nächtlichen Küche.

Mit einem Lächeln auf seinem löffeligen Gesicht schloss Leopold die Augen.

Und während draußen die ersten Vögel zwitscherten, träumte er vom Lied der leeren Tasse und von all den wundervollen Dingen, die selbst in der Stille passieren können.