
Otto Ohrenkneifer ist kein gewöhnlicher Ohrenkneifer. Er lauscht den leisesten Geräuschen der Nacht und nimmt seine Freunde mit auf ein Abenteuer. Viel Spaß beim Lesen dieser Gute-Nacht-Geschichte .
Tief versteckt unter dem riesigen Blatt einer Rhabarberpflanze, dort wo der Tau am Morgen wie kleine Diamanten glitzerte, wohnte Otto Ohrenkneifer.
Otto war, nun ja, ein Ohrenkneifer. Aber er war kein gewöhnlicher Ohrenkneifer, wie man ihn sich vielleicht vorstellt. Er kneifte nämlich gar nicht gerne in Ohren. Niemals! Er fand den Namen „Ohrenkneifer“ sogar ein bisschen ungerecht.
„Ich bin eher ein Ohren-Lauscher“, murmelte er oft in seinen nicht vorhandenen Bart, während er seine langen, feinen Fühler putzte, die wie winzige Antennen in die Luft ragten.
Otto liebte die Stille. Er liebte die winzigen, geheimen Geräusche, die die meisten anderen Tiere im Garten einfach überhörten. Den Wind, der durch die Grashalme flüsterte, das leise Summen einer Biene weit oben in der Apfelblüte, das Knistern eines trockenen Blattes.
Aber sein allerliebstes Geräusch, das, was ihn am glücklichsten machte, war etwas ganz Besonderes.
„Ich kann das Gras wachsen hören“, verkündete er eines sonnigen Nachmittags stolz seinen Freunden.
Marienkäfer Marie, die gerade ihre sieben Punkte auf Hochglanz polierte, kicherte. „Gras wachsen hören? Otto, du bist ein Scherzkeks! Gras macht doch keine Geräusche.“
Regenwurm Rudi, der seinen Kopf neugierig aus der feuchten Erde streckte, brummte zustimmend. „Genau. Ich wohne direkt im Gras, sozusagen. Und ich höre nur… Erde. Und manchmal meinen Magen knurren.“
Schmetterling Susi, die elegant von einer Pusteblume zur nächsten flatterte, lachte so sehr, dass ihr bunter Flügelstaub durch die Luft wirbelte. „Oh Otto! Das ist ja noch lustiger als die Geschichte vom singenden Tautropfen!“
Otto seufzte. Seine Fühler zuckten ein wenig enttäuscht. „Aber es stimmt! Es ist ein ganz, ganz leises Geräusch. Ein bisschen wie… wie winziges Knistern. Oder wie Seifenblasen, die zerplatzen, nur viel, viel sanfter.“
Seine Freunde sahen ihn zweifelnd an.
„Na gut“, sagte Otto entschlossen. „Wenn ihr mir nicht glaubt, dann kommt heute Nacht mit mir. Wenn alles schläft und die Welt ganz still ist. Dann zeige ich es euch.“
Marie, Rudi und Susi wechselten Blicke. Eine Nachtwanderung mit Otto? Das klang irgendwie… aufregend. Und ein bisschen verrückt.
„Abgemacht!“, rief Marie. „Aber wehe, wir hören nichts außer deinem eigenen Schnarchen, Otto!“
„Ich schnarche nicht“, protestierte Otto leise. „Ich lausche auch im Schlaf.“
Als der Mond groß und rund am Himmel stand und die Sterne wie ausgestreute Glitzersteine funkelten, trafen sich die vier Freunde am Rande des Gemüsebeets.
Die Nacht war anders als der Tag. Die Luft war kühler, die Schatten länger und alles wirkte geheimnisvoller.
„Pssssst!“, machte Otto und legte einen Fühler an seinen Mund (obwohl er keine Lippen hatte, aber die Geste verstand jeder). „Jetzt müssen wir ganz leise sein.“
Sie schlichen auf Zehenspitzen – oder was auch immer Regenwürmer und Schmetterlinge anstelle von Zehenspitzen benutzten – hinter Otto her zu einer kleinen Wiese hinter dem Komposthaufen.
„So“, flüsterte Otto. „Jetzt legt eure Ohren ganz nah an den Boden. Oder… nun ja, Rudi, du bist ja schon da. Und lauscht.“
Marie krabbelte dicht über die Halme. Susi faltete ihre Flügel und setzte sich vorsichtig auf ein Gänseblümchen. Rudi lauschte angestrengt aus seinem Erdloch.
Stille.
Dann… ein leises Rascheln. „Hörst du?“, fragte Otto aufgeregt.
„Ich glaube, das war nur der Wind“, flüsterte Marie.
„Oder ein Blatt, das runterfällt“, meinte Susi.
Plötzlich hörten sie ein tiefes, brummendes Geräusch. „Uuuuuuuurrrrrrr…“
Susi zuckte zusammen. „Was ist das? Ein Monster?“
Rudi zog seinen Kopf ein Stück weiter ein. „Klingt groß…“
Otto lauschte konzentriert, seine Fühler zitterten leicht. Er bewegte den Kopf hin und her. „Keine Sorge“, flüsterte er dann. „Das ist nur Berthold. Berthold der Mistkäfer. Er hat sein Nachtlager unter der alten Wurzel da drüben und schnarcht immer furchtbar laut.“
Erleichtertes Kichern bei den Freunden.
Sie lauschten weiter. Sie hörten das Zirpen einer Grille in der Ferne, das leise Plätschern des Tautropfens, der von Ottos Rhabarberblatt fiel, das Knacken eines Zweiges im nahen Gebüsch.
„Ich höre viel“, sagte Marie nach einer Weile. „Aber kein wachsendes Gras.“
Otto seufzte nicht. Er lächelte nur. „Geduld, meine Freunde. Die leisesten Geräusche brauchen die meiste Stille.“
Er führte sie weiter, zu einer Stelle, wo die Mohnblumen schliefen, ihre roten Köpfe sanft im Nachtwind wiegten.
„Hört ihr das?“, fragte Otto. „Wie sie seufzen? Ein zufriedenes Einschlaf-Seufzen.“
Susi neigte den Kopf. „Es klingt ein bisschen traurig, finde ich.“
„Nein, nein“, widersprach Otto sanft. „Es ist das Geräusch, wenn ein Traum beginnt.“
Sie wanderten weiter, vorbei an schlafenden Gänseblümchen und duftendem Thymian.
Sie hörten das leise Trippeln einer Maus, die nach heruntergefallenen Sonnenblumenkernen suchte.
Sie hörten das ferne „Schuhu“ einer Eule, das viel freundlicher klang als am Tag.
Sie hörten das Summen einer späten Hummel, die den Weg nach Hause nicht fand und müde auf einem Lavendelzweig Rast machte.
Die Nacht war voller Geräusche, das merkten Ottos Freunde jetzt. Leise Geräusche, die man am lauten Tag nie wahrnahm.
Langsam begann der Himmel im Osten heller zu werden. Ein zartes Rosa mischte sich ins Dunkelblau. Die Vögel würden bald erwachen.
„Noch ein letztes Mal“, flüsterte Otto und führte sie zurück zur Wiese.
Die Luft war jetzt ganz still. Kein Windhauch. Kein Zirpen. Nur die erwartungsvolle Stille vor dem Sonnenaufgang.
„Jetzt“, hauchte Otto. „Lauscht. Mit eurem ganzen Herzen.“
Sie lauschten. Marie hielt den Atem an. Susi schloss die Augen. Rudi reckte seinen Kopf so weit es ging.
Und dann… vielleicht war es nur die Stille selbst… oder vielleicht war es die Magie der frühen Morgenstunde… aber sie meinten, etwas zu hören.
Ein unendlich feines, zartes Klingen. Ein fast unhörbares Knistern. Ein Geräusch so leise, als würde die Erde selbst atmen.
War es das Gras? Wuchs es wirklich hörbar?
Oder hatten sie einfach gelernt, so gut zuzuhören wie Otto?
„Ich… ich glaube, ich habe es gehört!“, flüsterte Marie aufgeregt.
„Ich auch!“, piepste Susi.
Rudi brummte zustimmend. „Sehr… grün. Klang es.“
Otto lächelte sein allerbreitestes Ohrenkneifer-Lächeln. Seine Fühler wackelten vor Freude.
Ob sie es nun wirklich gehört hatten oder nicht, war gar nicht mehr so wichtig. Sie hatten die Nacht gehört. Sie hatten die Stille gehört. Und sie hatten Otto verstanden.
Als die ersten Sonnenstrahlen die Tautropfen wieder in Diamanten verwandelten, verabschiedeten sich die Freunde.
„Danke, Otto“, sagte Marie. „Das war… erstaunlich.“
„Wir müssen das öfter machen!“, rief Susi.
„Aber das nächste Mal ohne schnarchende Käfer“, brummte Rudi schläfrig und zog sich in die Erde zurück.
Otto krabbelte glücklich zurück unter sein Rhabarberblatt. Er kuschelte sich zusammen und lauschte dem Erwachen des Gartens. Dem Summen der ersten Bienen, dem Zwitschern der Amsel, dem leisen Plätschern des Morgentaus.
Und ganz, ganz leise, nur für ihn hörbar, knisterte und sang das wachsende Gras ihm ein Guten-Morgen-Lied.
Und Otto Ohrenkneifer wusste, dass Zuhören die schönste Superkraft von allen war.