
Der neugierige Tintenklecks Theo schleicht sich nachts aus seinem Fass und erlebt ein Abenteuer, das Papas Nase mit einem blauen Schmetterling ziert.
Theo Tintentropf war kein gewöhnlicher Tintenklecks.
Oh nein, er war ein kleiner, neugieriger Tropfen königsblauer Tinte, der in einem Glasfläschchen auf Finns Schreibtisch wohnte.
Meistens war es dort gemütlich.
Aber manchmal, besonders nachts, wenn Finn schlief und nur der Mond durchs Fenster spähte, wurde es Theo furchtbar langweilig.
Das Fläschchen war zwar sein Zuhause, aber die Welt da draußen schien so viel aufregender!
Heute Nacht war es wieder so weit.
Theo saß auf dem Boden seines Glasgefängnisses und schaukelte ein wenig hin und her. Die Stille im Zimmer war fast so dick wie eingetrocknete Tinte.
Plötzlich hörte er ein Geräusch.
Ein tiefes, brummendes Geräusch, das aus dem Nebenzimmer kam.
Chrrrrr… Püüüh… Chrrrrr… Püüüh…
Es klang rhythmisch, wie eine alte Lokomotive, die sanft vor sich hin dampfte.
„Was ist das?“, murmelte Theo zu sich selbst, seine kleine Tintenoberfläche kräuselte sich vor Neugier. Es klang wie ein sanfter Riese, der im Schlaf schnaufte.
Seine Neugier war geweckt. Sie kitzelte ihn mehr als das Papier, auf das er manchmal tropfen durfte.
Er musste herausfinden, was dieses Geräusch verursachte! Unbedingt!
Aber wie sollte er aus dem Fläschchen kommen? Der Deckel saß fest, wie eine Auster mit Geheimnissen.
Theo spähte nach oben. Der Rand des Glases glitzerte im fahlen Mondlicht. Und da! Der Deckel war nicht ganz zugedreht! Ein winziger Spalt, kaum breiter als ein Pinselhaar!
Das war seine Chance!
Er nahm all seinen Mut zusammen, machte sich ganz dünn und flach, sog quasi seinen Tintenbauch ein und quetschte sich.
Es kitzelte ein bisschen, als er am staubigen Gewinde entlangrutschte. Es roch nach altem Glas und trockener Tinte.
Plumps!
Da lag er, ein kleiner blauer Klecks auf dem großen, weiten Schreibtisch. Die Holzmaserung unter ihm fühlte sich rau und abenteuerlich an.
Wow! Von hier oben sah alles riesig aus. Wie eine Landschaft aus einem unbekannten Land.
Die Buntstifte in ihrem Becher ragten wie bunte Bäume in einem Zauberwald in die Höhe.
Der Radiergummi, weiß und kantig, sah aus wie ein schneebedeckter Berg, bereit für eine Tinten-Erstbesteigung.
Und die Schreibtischlampe… sie bog ihren langen Hals herüber und glich einem freundlichen Riesen mit einem leuchtenden Auge, das sanft über die Szenerie wachte.
Das Chrrrrr… Püüüh… war jetzt lauter. Deutlicher. Es zog Theo magisch an, wie ein Magnet einen kleinen Metallsplitter.
Vorsichtig, um keine Spuren zu hinterlassen, rollte er sich zur Kante des Schreibtisches.
Puh, das war hoch! Der Teppichboden sah von hier oben aus wie ein flauschiges, grünes Meer.
Wie sollte er nur herunterkommen, ohne zu zerspritzen?
Da entdeckte er das Ladekabel von Finns Tablet, das wie eine dicke, schwarze Liane vom Tischrand herunterhing.
Perfekt! Sein Rettungsseil!
Theo nahm Anlauf, ein kleiner Hopser auf der Stelle, und sprang. Er landete mit einem leisen Plopp auf dem weichen Teppichboden. Die Fasern kitzelten ihn.
Geschafft! Er war unten!
Er rollte und kullerte durch das dunkle Zimmer, vorbei an Spielzeugautos, die wie schlafende Käfer aussahen, und unter einem Stuhlbein hindurch, immer dem schnarchenden Geräusch nach.
Er schlüpfte unter der Tür hindurch – zum Glück war der Spalt groß genug für einen abenteuerlustigen, wenn auch etwas platten, Tintentropfen.
Und da war er. Im Schlafzimmer von Finns Eltern. Es roch anders hier. Nach Lavendel und warmer Bettdecke.
Das Geräusch kam von dem großen Bett in der Mitte des Raumes.
Dort lag Finns Papa, zugedeckt bis zum Hals, und schlief tief und fest.
Und er schnarchte! Chrrrrr… Püüüh… Das Geräusch erfüllte den Raum mit einer beruhigenden Monotonie.
Theo musste kichern, ein leises, blubberndes Geräusch. Das klang ja lustig! Fast wie Musik.
Er rollte näher heran, versteckte sich kurz hinter einem Hausschuh, der wie eine gemütliche Höhle aussah.
Papas Gesicht sah im Mondlicht ganz friedlich aus. Ein leichter Bartschatten, ein paar Lachfältchen um die Augen.
Seine Nase war… nun ja… ziemlich groß. Eine wunderbare, leere Fläche. Wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, das nur darauf wartete, verziert zu werden.
Und Theo war ja nicht irgendein Tropfen. Er war Tinte! Königsblaue Tinte! Geboren, um zu schreiben, zu malen, Spuren zu hinterlassen!
Plötzlich hatte er eine Idee. Eine kribbelige, lustige, ein bisschen freche Idee.
Er könnte doch… vielleicht… etwas malen? Nur etwas ganz Kleines? Etwas, das zum Träumen anregt?
Er blickte sich um. Wie kam er nur da hoch? Das Bett war wie eine riesige Klippe.
Ah, der Nachttisch! Direkt neben dem Kopfkissen.
Mit einiger Mühe, sich an den feinen Holzfasern festklammernd, kletterte Theo am Bein des Nachttisches empor. Es war wie Bergsteigen für Tintenkleckse.
Oben angekommen, sah er ein Buch mit Eselsohren, eine Brille mit Fingerabdrücken und ein Glas Wasser, in dem Luftblasen aufstiegen.
Und direkt daneben… Papas schlafendes Gesicht. Die Nasenspitze war jetzt ganz nah. Eine perfekte Leinwand, sanft beleuchtet vom Mond.
Theo konzentrierte sich. Er wollte etwas Schönes malen. Etwas Zartes. Etwas, das im Traum davonfliegen könnte.
Vorsichtig tupfte er sich auf die Nasenspitze. Die Haut fühlte sich warm an.
Mit winzigen, präzisen Bewegungen, als würde er einen Brief mit einer Feder schreiben, formte er aus sich selbst… einen Schmetterling!
Einen winzigen, königsblauen Schmetterling mit zarten Flügeln und feinen Fühlern.
Fertig!
Theo betrachtete stolz sein Werk. Der kleine Schmetterling sah im Mondlicht bezaubernd aus, fast als würde er gleich davonflattern.
Er kicherte leise, ein glucksendes Geräusch. Das war sein kleines, nächtliches Geheimnis. Ein Kunstwerk auf einer schlafenden Nase!
Chrrrrr… Mmmh…
Papa bewegte sich im Schlaf! Er drehte den Kopf leicht zur Seite.
Oh Schreck! Schnell weg hier, bevor er aufwachte und sich wunderte, warum seine Nase kitzelte!
Theo ließ sich blitzschnell vom Nachttisch auf das weiche Kopfkissen fallen – eine sanfte Landung – und rollte dann geschwind unter das Bett, in den sicheren Schatten.
Er musste zurück zu seinem Fläschchen, bevor die ersten Sonnenstrahlen kamen und sein Abenteuer verrieten!
Der Rückweg war genauso aufregend wie der Hinweg, nur diesmal mit der Eile eines Flüchtlings.
Er kletterte am Ladekabel hoch, huschte über den riesigen Schreibtisch, vorbei an den schlafenden Stiften, und quetschte sich mit letzter Kraft zurück durch den Spalt in sein Tintenfass.
Puh, geschafft! Sicher im Hafen.
Erschöpft, aber glücklich und zufrieden mit seinem nächtlichen Streich, kuschelte er sich in seine Tintenpfütze und schlief sofort ein, träumend von fliegenden Nasen und blauen Schmetterlingen.
Am nächsten Morgen wurde Finn von einem lauten Lachen geweckt. Es war Papas Lachen, tief und herzlich.
Es kam aus dem Badezimmer.
Neugierig tapste er hinüber, die Augen noch halb geschlossen.
Papa stand vor dem Spiegel und lachte schallend. Mama stand daneben, hielt sich den Bauch und kicherte.
„Was ist denn los?“, fragte Finn verschlafen und rieb sich die Augen.
Papa drehte sich um, ein breites Grinsen im Gesicht.
Und Finn prustete los! Er konnte sich kaum halten vor Lachen.
Mitten auf Papas Nasenspitze, genau da, wo Theo sein Meisterwerk hinterlassen hatte, saß ein winziger, perfekt gemalter, königsblauer Schmetterling!
„Wo kommt der denn her?“, fragte Papa und versuchte, den Schmetterling im Spiegel genauer anzusehen, indem er die Nase reckte.
„Hast du etwa nachts heimlich mit Tinte gemalt, Finn?“, fragte Mama grinsend, die Augen blitzten belustigt.
Finn schüttelte heftig den Kopf, konnte aber vor Lachen kaum sprechen. „Nein! Ehrlich! Ich war das nicht!“
Papa zuckte mit den Schultern. „Sehr seltsam. Ein nächtlicher Nasen-Künstler? Aber irgendwie… süß!“
Er versuchte, den Schmetterling mit dem Finger wegzuwischen, aber die Tinte war über Nacht gut getrocknet.
„Sieht aus, als hätte ich heute einen besonderen Nasenschmuck“, sagte er lachend und zwinkerte Finn zu.
Finn rannte kichernd zurück in sein Zimmer, direkt zum Schreibtisch.
Er nahm das Tintenfass vorsichtig hoch und hielt es gegen das Morgenlicht.
Drinnen schlummerte die königsblaue Tinte, dunkel und geheimnisvoll.
Aber Finn bildete sich ein, ganz unten am Boden einen winzigen, besonders zufriedenen Klecks zu sehen, der vielleicht ein ganz klein wenig blasser war als sonst.
Er lächelte. Wer weiß, vielleicht hatte seine Tinte ja doch ein kleines, geheimes Eigenleben.
Theo Tintentropf, sicher und geborgen in seinem Fläschchen, hörte das Lachen aus dem Badezimmer und die fröhlichen Stimmen.
Er lächelte in sich hinein, so gut das ein Tintenklecks eben kann. Sein kleines Abenteuer hatte Freude gebracht. Ein bisschen blaue Magie in den Morgen.
Und er wusste jetzt sicher: Die Welt außerhalb des Tintenfasses war voller Wunder, Abenteuer und lustiger Ideen, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.
Wer weiß, vielleicht würde er nächste Nacht ja Mamas Ohrläppchen besuchen und einen winzigen Mond darauf malen?
Aber pssst! Das war noch ein Geheimnis. Ein königsblaues Geheimnis.