
Ein neugieriges Wölkchen namens Wolle erkundet nachts die Lichter der Stadt und findet unerwartete Freunde am Boden.
Hoch über der Stadt, wo die Luft frisch und klar ist, lebte ein kleines, flauschiges Wölkchen namens Wolle.
Wolle war kein gewöhnliches Wölkchen.
Die meisten anderen Wolken liebten es, im Sonnenlicht zu dösen, Regentropfen zu sammeln oder mit dem Wind um die Wette zu fliegen.
Wolle liebte das auch, aber er hatte ein Geheimnis.
Er war schrecklich neugierig auf das, was unter den Wolken passierte, besonders nachts.
Wenn die Sonne unterging und der Himmel dunkel wurde, sah Wolle von oben winzige, funkelnde Lichter auf der Erde.
„Das müssen die Boden-Sterne sein“, murmelte er oft vor sich hin.
Die älteren, größeren Wolken brummten dann meistens nur.
„Ach, das da unten ist doch nur Lärm und Hektik“, sagte eine dicke Kumuluswolke.
„Und diese Lichter sind gar keine Sterne, kleiner Wolle. Das ist nur… Zeug“, meinte eine dünne Zirruswolke, die immer alles besser wusste.
Aber Wolle war nicht zufrieden.
„Was für Zeug?“, fragte er.
Niemand konnte es ihm richtig erklären.
Eines Abends, als der Mond wie eine silberne Sichel am Himmel hing und die Luft ganz still war, fasste Wolle einen Entschluss.
„Ich schau mir diese Boden-Sterne jetzt selbst an!“, flüsterte er.
Ganz vorsichtig löste er sich von seiner Wolkenfamilie.
Er sank langsam tiefer und tiefer, durch die kühle Nachtluft.
Es kitzelte ein bisschen, so allein nach unten zu schweben.
Sein Herz pochte wie ein kleiner Regentropfen auf einem Blechdach.
Je tiefer er kam, desto größer und heller wurden die Lichter.
Sie waren nicht so silbern und kalt wie die Sterne am Himmel.
Diese Lichter hier unten leuchteten warm und gelb, orange und manchmal sogar bunt.
Wow!
Er schwebte über lange, dunkle Bänder, auf denen sich leuchtende Käfer schnell hin und her bewegten und dabei brummten.
„Merkwürdige Käfer“, dachte Wolle.
Dann sah er hohe, steinerne Bäume, in denen viele kleine, viereckige Lichter brannten, wie Glühwürmchen in einem riesigen Baumstamm.
Wolle schwebte noch tiefer, bis er fast eine dieser seltsamen Stein-Bäume berührte.
Er landete sanft neben einem besonders hellen, gelben Licht, das auf einem langen Stiel stand und die Straße beleuchtete.
„Hallo?“, piepste Wolle schüchtern.
Das Licht summte leise.
Dann knackte es ein wenig und eine freundliche Stimme sagte: „Na hallo! Wer bist du denn, kleiner Flauschball?“
Wolle staunte.
„Ich bin Wolle. Ein Wölkchen. Und wer bist du?“
„Ich bin Laternchen“, antwortete das Licht. „Eine Straßenlaterne. Ich mache die Nacht für die Menschen ein bisschen heller.“
„Menschen?“, fragte Wolle. „Sind das die, die in den Stein-Bäumen wohnen und die leuchtenden Käfer fahren?“
Laternchen lachte leise. „Du meinst die Häuser und die Autos? Ja, genau. Das sind die Menschen.“
„Und du bist ein Boden-Stern?“, fragte Wolle weiter.
„So hat mich noch niemand genannt“, summte Laternchen amüsiert. „Aber ja, man könnte sagen, ich bin eine Art Stern für die Straße.“
Plötzlich raschelte es über ihnen.
Auf dem Dach des nächsten Hauses reckte und streckte sich eine Katze.
Sie blinzelte verschlafen mit ihren grünen Augen.
„Miau? Was ist denn hier los? So ein ungewöhnlicher Besuch“, maunzte sie und schaute neugierig auf Wolle.
„Hallo“, sagte Wolle. „Ich bin Wolle.“
„Ich bin Mieze“, gähnte die Katze. „Normalerweise schlafe ich um diese Zeit. Aber ein Wölkchen auf der Straße sieht man nicht alle Nächte.“
Wolle war begeistert.
So viele neue Freunde!
„Erzählt mir mehr von hier unten!“, bat er aufgeregt.
Laternchen erklärte ihm, dass die „leuchtenden Käfer“ Autos waren, die Menschen von einem Ort zum anderen brachten.
Mieze erzählte von den Geräuschen der Nacht – dem leisen Wind in den Bäumen, dem fernen Bellen eines Hundes und dem Schnurren von Katzen auf warmen Dächern.
Wolle hörte fasziniert zu.
Es war ganz anders als oben im Himmel.
Nicht nur Lärm und Hektik, wie die alten Wolken gesagt hatten.
Es war… interessant.
Er erfuhr, dass die Lichter in den Häusern angingen, wenn die Menschen zu Hause waren, und ausgingen, wenn sie schliefen.
Er lernte, dass die Autos manchmal hupten, wenn sie sich erschreckten, genau wie Wolle manchmal donnerte, wenn er überrascht wurde.
Die Zeit verging wie im Flug.
Langsam begann der Himmel im Osten heller zu werden.
Ein zartes Rosa mischte sich in das tiefe Blau der Nacht.
„Oh“, sagte Wolle traurig. „Ich glaube, ich muss zurück.“
Laternchen nickte. „Ja, kleiner Wolle. Bald geht die Sonne auf, und dann ist es für Wölkchen hier unten zu warm und zu hell.“
Mieze streckte sich noch einmal. „War nett, dich kennenzulernen, Wolle. Komm bald wieder runtergeflauscht!“
„Das mache ich!“, versprach Wolle.
Er verabschiedete sich von seinen neuen Freunden.
„Danke, dass ihr mir die Boden-Sterne erklärt habt!“
Langsam und zufrieden stieg Wolle wieder nach oben.
Er schwebte über die schlafende Stadt, die nun im ersten Morgenlicht lag.
Die Lichter wurden wieder kleiner, bis sie nur noch winzige Punkte waren.
Als er wieder bei seiner Wolkenfamilie ankam, schliefen die meisten noch.
Wolle kuschelte sich an eine große, weiche Wolke und schloss die Augen.
Er war müde, aber sehr glücklich.
Er hatte die Boden-Sterne gesehen und verstanden.
Er hatte Freunde gefunden, wo er keine erwartet hatte.
Und er wusste jetzt: Die Welt unter den Wolken war vielleicht anders, aber genauso wunderbar und voller Geheimnisse wie der Himmel darüber.
Von nun an würde er oft von Laternchen, Mieze und den brummenden Metallkäfern träumen.
Und er konnte es kaum erwarten, sein nächstes Abenteuer zu erleben und wieder die Sterne von unten zu zählen.