Oskar Ohrwurm liebt Musik, kann aber nur summen. Nachts sucht er eine geheimnisvolle Melodie und findet sein eigenes, beruhigendes Schlaflied.
Tief versteckt zwischen den Wurzeln eines knorrigen, alten Apfelbaums wohnte Oskar Ohrwurm. Oskar war kein gewöhnlicher Ohrwurm. Er hatte eine riesige Leidenschaft: Musik!
Tief versteckt zwischen den Wurzeln eines knorrigen, alten Apfelbaums wohnte Oskar Ohrwurm.
Oskar war kein gewöhnlicher Ohrwurm. Er hatte eine riesige Leidenschaft: Musik!
Er liebte es, wenn die Amsel am Morgen ihr Lied trällerte oder die Grillen am Abend ihr Zirpkonzert gaben.
Sein allergrößter Traum war es, selbst ein berühmter Sänger zu werden.
Es gab da nur ein klitzekleines Problem: Oskar konnte nicht singen.
Wirklich gar nicht.
Wenn er versuchte, eine Melodie nachzusingen, kam nur ein leises, etwas brummiges Summen heraus.
„Sssmmm… sssmmm… hmhmhm…“, machte es dann.
Seine Freunde, die Ameisen, fanden das immer furchtbar lustig und kicherten hinter vorgehaltener Hand, äh, Fühler.
Oskar wurde dann immer ein bisschen rot um die Zangen, aber er gab die Hoffnung nicht auf.
Eines Abends, als der Mond wie eine dicke, silberne Birne am Himmel hing und die Sterne wie Zuckerstreusel funkelten, lag Oskar in seinem gemütlichen Blätterbettchen.
Er konnte mal wieder nicht einschlafen.
Plötzlich hörte er etwas.
Eine wunderschöne Melodie, so sanft und leise, als würde sie vom Wind selbst gesungen.
Sie schwebte durch die Nachtluft, zart wie ein Spinnenfaden im Morgentau.
„Wow!“, flüsterte Oskar. „Was ist das denn für ein zauberhaftes Lied?“
So etwas Schönes hatte er noch nie gehört.
Seine Neugier war geweckt. Wer konnte nur so wundervoll singen?
Das musste er herausfinden!
Leise krabbelte Oskar aus seinem Bett und machte sich auf den Weg.
Er kletterte den Apfelbaumstamm hinunter, seine kleinen Beinchen tappten vorsichtig über die raue Rinde.
Unten im Gras raschelte es.
„Hallo? Ist da jemand?“, fragte Oskar mutig.
Langsam, gaaanz laaangsaaam, schob sich ein Schneckenhaus aus dem Dunkeln. Schlomo Schnecke streckte seine Fühler aus.
„Och, Oskar… was machst du denn hier mitten in der Nacht? Ich wollte gerade meinen Mitternachtsschlaf halten“, nörgelte Schlomo und gähnte herzhaft.
„Entschuldige, Schlomo“, sagte Oskar aufgeregt. „Aber hast du auch diese wunderschöne Musik gehört? Wer singt da so?“
Schlomo Schnecke lauschte angestrengt. Seine Fühler zitterten ein wenig.
„Musik? Hmm… Ich höre nur meinen Magen knurren. War wohl doch keine gute Idee, das welke Blatt zum Abendessen zu nehmen.“
Er zog sich beleidigt in sein Haus zurück. „Gute Nacht, Oskar. Und tritt nicht auf meine Schleimspur!“
Oskar seufzte. Schlomo war wohl keine große Hilfe.
Er krabbelte weiter, immer der leisen Melodie nach, die mal lauter, mal leiser durch den Garten wehte.
Er kam an einem großen Busch vorbei, auf dem eine Eule saß. Es war Professor Uhu, bekannt für seine Weisheit, aber auch für seine leichte Zerstreutheit.
„Schuhu, Professor Uhu!“, rief Oskar nach oben. „Wissen Sie vielleicht, wer dieses herrliche Lied singt?“
Professor Uhu blinzelte mit seinen großen, runden Augen.
„Ein Lied, mein junger Freund? Hm, ja, die Musik der Nacht… sehr interessant.“
Er räusperte sich gelehrt.
„Das könnte der Gesang der seltenen Mondmotte sein. Oder vielleicht… vielleicht sind es die Glühwürmchen, die eine Symphonie des Lichts summen? Oder war es doch der Tau, der auf die Grashalme tropft und dabei kleine Klangperlen erzeugt?“
Professor Uhu nickte sich selbst zufrieden zu.
Oskar war verwirrter als zuvor. Mondmotten? Klangperlen? Das klang ja alles spannend, aber es half ihm nicht wirklich weiter.
„Äh… danke, Professor“, murmelte Oskar und krabbelte schnell weiter, bevor der Professor noch mehr verwirrende Theorien aufstellen konnte.
Die Melodie führte ihn zu einem alten Holzstapel.
Dort saß Bernd Käfer mit verschränkten Beinchen und einem grimmigen Gesichtsausdruck.
„Pssst!“, zischte Bernd, als Oskar näher kam. „Kann man hier nicht mal seine Ruhe haben? Dieses ewige Gesumme!“
Oskar zuckte zusammen. „Entschuldige, Bernd. Ich suche nur den Sänger dieses schönen Liedes. Hast du ihn gehört?“
Bernd Käfer schnaubte verächtlich.
„Schönes Lied? Das ist doch nur der Wind, der durch die Blätter pfeift! Nerviges Geräusch. Und dein Gebrumme macht es auch nicht besser!“
Der Wind? Oskar horchte auf.
Bernd hatte Recht. Die Melodie kam von überall und nirgendwo. Es war das leise Rascheln der Blätter im Apfelbaum, das sanfte Säuseln des Windes in den Grashalmen, das Flüstern der Nacht.
Ein bisschen enttäuscht war Oskar schon. Es gab also gar keinen geheimnisvollen Sänger.
Er setzte sich unter ein großes Rhabarberblatt und lauschte dem Windlied.
Es war wirklich wunderschön.
Und dann, ganz leise, fing Oskar an, mitzusummen.
„Sssmmm… hmhmhm… sssmmm…“
Er summte die Melodie des Windes nach, so gut er konnte.
Sein Summen war nicht laut oder perfekt, aber es war sein eigenes Lied, inspiriert von der Musik der Nacht.
Er summte und summte, vergaß die Suche, vergaß seine Enttäuschung.
Plötzlich hörte er ein Geräusch.
Schlomo Schnecke hatte seinen Kopf wieder aus dem Haus gestreckt.
„Sag mal, Oskar… das… das klingt ja ganz beruhigend“, murmelte er schläfrig.
Von oben rief Professor Uhu: „Huch! Eine ganz neue nächtliche Klangquelle! Faszinierend… und erstaunlich einschläfernd.“
Sogar Bernd Käfer war näher gekommen. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so grimmig.
„Na gut“, brummte er. „Das ist… erträglich. Fast schon… nett.“
Oskar hörte überrascht auf zu summen.
Die anderen Tiere mochten sein Summen?
Er lächelte, so breit ein Ohrwurm eben lächeln kann.
Er musste kein berühmter Sänger sein. Sein leises, brummiges Summen war auch etwas Besonderes.
Es war sein ganz eigenes Schlaflied.
Und so summte Oskar weiter unter dem Rhabarberblatt, „Sssmmm… hmhmhm… sssmmm…“, während der Mond langsam über den Himmel zog.
Schlomo Schnecke schlief sofort ein, sein Haus wackelte leicht im Takt.
Professor Uhu klappte der Schnabel zu, und er nickte sanft auf seinem Ast ein.
Und Bernd Käfer? Er rollte sich zusammen und murmelte nur noch ein leises: „Gute Nacht, Oskar… summ ruhig weiter… sssmmm…“
Oskar summte noch eine Weile, bis auch ihm die Augen zufielen.
Er träumte davon, wie er gemeinsam mit dem Wind und den Blättern die allerschönsten Schlaflieder summte – für alle Tiere im Garten.
Und manchmal, wenn man ganz leise ist in einer klaren Nacht, kann man vielleicht immer noch Oskars sanftes „Sssmmm… hmhmhm…“ hören, das durch den Garten schwebt.
Elara Becker
Mit einem Abschluss in Literaturwissenschaften und einer Vorliebe für atmosphärische Sprache vereint Elara Becker bei Glückstext zarte Bedtime-Stories mit surrealer Fantasie und Gänsehautmomenten. Ihre Geschichten spenden Trost – und wecken das Unheimliche im Alltag.
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